Lucy Frickes neuer Roman »Die Diplomatin«

Angst ist nur eine Ermessensfrage

Lucy Fricke
Lucy Fricke, Foto: Gerald von Foris
Es ist ein Beruf, der seit jeher die Fantasie beflügelt. Wer ihn ausübt, lebt fast in einer Parallelwelt, genießt höchste Reputation und sogar Straffreiheit im Gastland. Zum Klischee der diplomatischen Kulisse gehören rauschende Feste und Empfänge ebenso wie das stille Agieren im Hintergrund großer politischer Krisen und weltbewegender Affären. All das blüht auch der Heldin in dem neuen Roman von Lucy Fricke und ist doch ganz anders, als es sich »Die Diplomatin« (Claassen) in ihren schlimmsten Träumen vorstellte. Bewirken kann sie nämlich nichts. Bis sie dem routinierten Zynismus freundlicher Lügen eines Tages ganz undiplomatisch mit der Wahrheit begegnet und handelt.

Die Welt der Diplomatie und ihre exklusive Gesellschaft bildet immer wieder das Setting für Romane oder Filme, in der deutschen Gegenwartsliteratur hat zuletzt Nora Bossong in »Schutzzone« von einer jungen Frau und ihren ernüchternden Erfahrungen mit der Diplomatie in einer internationalen Organisation erzählt. Die Heldin von Lucy Fricke kommt dagegen mit Ende vierzig zuerst einmal in einem wunderbaren Land an. Nach zwanzig Jahren auf der Karriereleiter hat »der Minister persönlich« sie »nach oben geschossen«, und Friederike Andermann, genannt Fred, aufgewachsen als Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin in Hamburg, ist jetzt Botschafterin im schönen Uruguay. Dort lässt sich zuerst sogar verschmerzen, dass sich ihr zweiter Mann gerade mit einem Burn-out verabschiedet und sie sich für das große Fest der Botschaft zur Deutschen Einheit um Würstchen, Grillfleisch und die Hymne kümmern muss. Dann überstürzen sich jedoch die Ereignisse und die Diplomatin ist plötzlich als Krisenmanagerin gefragt. Sie macht zwar alles richtig, scheitert aber trotzdem.

Zwei Jahre später begegnen wir Fred in Istanbul wieder, wo sie auf ganz andere Weise ins Zentrum einer Krise gerät. Alle rechtsstaatlichen Übereinkünfte sind dort Makulatur, ein Dialog mit den Behörden nicht mehr möglich. Zum Sommerfest der Botschaft wird die Liste der »Künstlerinnen, Politiker, Journalistinnen, Organisatoren und Mäzene« vorgelesen, die im Gefängnis sitzen, sie wird von Jahr zu Jahr länger. Inhaftiert ist auch eine deutsch-türkische Kunsthistorikerin, ihr Sohn, der nur zu Besuch aus Berlin eingeflogen war, wird seit Monaten im Land festgehalten – und dann flieht auch noch ein deutscher Journalist vor dem Zugriff der Polizei ins Gästehaus des Konsulats. Auch wenn Angst »nur eine Ermessensfrage« ist, wie die Diplomatin sehr nüchtern feststellt, am Ende dieses rasanten und immer wieder auch höchst komischen Romans erfordert ihre Überwindung kein bisschen diplomatisches Geschick, sondern einfach nur Mut. Und ein bisschen Chuzpe, das gehört natürlich auch dazu.

Lucy Fricke, »Die Diplomatin«, Ullstein, € 22,–


01.04.2022 | Jürgen Abel