Madame Nielsens neuer Roman »Lamento«

Das leuchtende Jetzt

Madame Nielsen
Madame Nielsen, Foto: Frederike van der Straeten
Eigentlich heißt sie »Lou Camille Nielsen«, aber ihren vollen Namen benutzt sie nur selten. Geboren wurde Madame Nielsen 2013 in Paris, doch es war nur ein weiterer Schritt von mehreren Identitäts- und Namensänderungen. Ihr neuer Roman »Lamento« (Kiepenheuer & Witsch) erzählt von der Zeit, die diesen Häutungen und Verwandlungen vorausging und die Geschichte einer Liebe, bei der die Flammen von Beginn an ziemlich hoch lodern.

Eigentlich heißt sie »Lou Camille Nielsen«, aber ihren vollen Namen benutzt sie nur selten. Geboren wurde Madame Nielsen 2013 in Paris, doch es war nur ein weiterer Schritt von mehreren Identitäts- und Namensänderungen. Schon vor über 20 Jahren verkürzte der Schriftsteller und Performancekünstler Claus Beck-Nielsen seinen Namen in Claus Nielsen, beendete dessen Leben kurz darauf jedoch durch einen inszenierten »Selbstmord« und setzte sein Werk als Helge Bille Nielsen fort. Im Auftrag der Agentur »Das Beckwerk«, die zur Bündelung seiner Aktivitäten gegründet wurde, führte Nielsen daraufhin als »namenlose Versuchsperson« auf, was der Vorstand der Agentur beschloss. Er gab Konzerte, veröffentlichte Fotos, Bücher, Installationen und brachte politische Projekte im Nahen Osten, in Afghanistan, Hongkong und den USA zur Aufführung. 2010 wurde der Schriftsteller Claus Beck-Nielsen dann endgültig in Kopenhagen beerdigt, nachdem eine Nachbildung seines Körpers aus Silikon zuvor sieben Tage lang aufgebahrt wurde. An der Beerdigung nahmen 2000 Trauergäste teil, und ein Pfarrer sprach eine Trauerrede.

Vorausgegangen ist all diesen Häutungen und Verwandlungen ein »existentielles Lebensexperiment«, wie Madame Nielsen in einem Interview mit der »Neuen Zürcher Zeitung« erklärte. Sie wollte an einem bestimmten Punkt ihres Lebens vollständig neu beginnen und zwar ganz ohne Vorgeschichte. In ihrem neuen Roman »Lamento« wird auch von diesen Anfängen erzählt, davon, wie einer einfach ausbricht, ein vordergründig gutes Familienleben zuerst nur immer wieder für einen Tag unterbricht, um sich als Obdachloser durchzuschlagen, später ganz verschwindet. Warum er das macht, kann er selbst nicht wirklich begründen. Und auch die Erzählerin weiß es nicht, noch über zwanzig Jahre später, als sie darüber schreibt, kann sie es nicht nachvollziehen: »Es ist ein Rätsel.«

In drei Episoden kreist die Klage, die der Roman anstimmt, um dieses Rätsel und mit ihm um die Frage, warum ausgerechnet das größte Glück so radikal umschlagen und scheitern muss. Das lodernde, das leuchtende Jetzt der Verliebtheit, das sich jederzeit »in alles Mögliche verwandeln« kann, »in Hass. Zerstörung. Eifersucht. Wahnsinn. Verzweiflung. Perversion. Selbstmord. Sex«, wird gleich zu Beginn in einem Wohnungsbrand gespiegelt, bei dem ein junges Paar seine Unschuld verliert. Das Feuer und seine alles verschlingende Kraft zieht sich als Motiv dann durch den gesamten Roman, der in einem sehr gelungenen Mix aus Pathos und Lakonie von einer großen und am Ende schmerzhaften Liebe erzählt.

Die Erzählerin, eine erfolgreiche junge Schriftstellerin, lernt bei der Premiere eines ihrer Stücke einen jungen Dramatiker, Schauspieler und Performer kennen. Sie sind so sehr ineinander verliebt, wie es das sonst nur in Büchern gibt, verbringen fortan jede freie Minute zusammen, stellen einander Eltern und Freunde vor und feiern bald ein rauschendes Hochzeitsfest. Doch dann erweist sich die Verliebtheit als »eine Katastrophe, sie kennt keine Grenzen, sie berauscht sich an sich selbst und hat ihre Lust an der Aufhebung jeder herrschenden Ordnung, sie stürzt sich ins Ungewisse und huldigt in alle Ewigkeit dem Jetzt«. Alle Versuche, von der rasenden Verliebtheit des jungen Paares in die fürsorgliche Liebe einer jungen Familie zu finden, scheitern. Nach ersten schlimmen Zerwürfnissen gelingt es zwar noch einmal, das »elektrische Knistern« für ein paar Tage zurückzuholen, doch dann ist es, als wäre es ein Wiedersehen mit Gespenstern ihrer selbst gewesen. Dennoch bekommen in diesem verzehrenden Liebesroman schließlich alle, was sie sich wünschten: Die Erzählerin einen neuen Tag, ihr Ex-Mann eine neue Identität und wir alle einen Roman über einen »Augenblick außer der Zeit und der Geschichte, der einfach dauern und dauern darf«.

Madame Nielsen liest am 4. Mai im Literaturhaus aus ihrem Roman
➝ Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–/Streaming 5,–


Madame Nielsen, »Lamento«, Kiepenheuer & Witsch, € 20,–


29.04.2022 | Jürgen Abel