Magdalena Saigers Debüt »Was ihr nicht seht«

Und dann steht da ein Hirsch

Magdalena Saiger
Magdalena Saiger, Foto: Andreas Hornoff
Es geht um etwas, das aus sich selbst heraus strahlt, das echt ist, wahr und darin unanfechtbar bleibt. Aber kann es das überhaupt geben oder ist es doch immer nur ein Ideal? In ihrem hochpoetischen, feinsinnig konstruierten und gleichzeitig sehr unterhaltenden Romandebüt »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes« (Edition Nautilus) erzählt Magdalena Saiger von einem, der auszieht, ein ideales Kunstwerk zu schaffen. Es ist die Geschichte eines künstlerischen Amoklaufs. Für einen Auszug aus dem Manuskript wurde Magdalena Saiger 2020 mit einem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet.

Im »Kunstschönen« sah der Philosoph Friedrich Hegel einst die höchste »Entfaltung der Wahrheit«, in der »das sinnliche Scheinen der Idee« erfahren werden könne. Doch was wird aus einem so hehren Ideal in einer Welt, in der alle Lebensbereiche materiell durchleuchtet und von Kapitalinteressen fremdbestimmt sind?
Das ist die Ausgangsfrage von Magdalena Saigers Debütroman, und ihr Protagonist, der selbst als »Souffleur« und »Geburtshelfer« großer Kunstereignisse tätig war, also genau weiß, wie sehr der Markt ein Kunstwerk prägt, gibt darauf eine radikale Antwort. Am Anfang steht jedoch eine Erfahrung, die man, wieder mit einem Begriff Hegels, als »das Naturschöne« bezeichnen kann. Es ereilt den Erzähler an einer Endhaltestelle, in einer tristen Gegend, »schottergrau«, und dann steht da plötzlich ein Hirsch in all seiner königlichen Stattlichkeit. Die Begegnung beeindruckt ihn so sehr, dass sie zum Auslöser dafür wird, sein gut sortiertes Leben aufzugeben, um es ganz in den Dienst eines Kunstwerks zu stellen. Dessen Schönheit und Wahrhaftigkeit soll jedoch nicht durch grapschende Blicke entweiht werden, sondern ganz für sich bleiben.
In einer verlassenen Maschinenhalle am Rande eines aufgegebenen Tagebaus in der Lausitz findet er einen Ort, der ihm geeignet scheint. Nur ein »selbst ernannter Wächter«, ein »Chronist ohne Feder, ein grober autodidaktischer Prediger für die Waldvögel«, den er nach dem Bildhauer Alberto Giacometti nennt, lebt dort noch, und erzählt ihm an unzähligen Abenden vom Leben in dem Dorf, das es einst hier gab, bevor es dem Tagebau weichen musste. So vergehen Wochen und Monate, in denen zuerst nur der Plan heranreift, ein riesiges Labyrinth aus Papier zu gestalten. Dann wird das Material beschafft, auch für Recherchen muss er sein Arbeitsexil mehrmals verlassen. Doch schließlich wächst es heran, das Werk.
Magdalena Saiger begleitet das Entstehen des Labyrinths durch in den Text geschobene Tafeln, die, wie in einer Ausstellung, Hintergründe und Materialien erklären, bis sich erfüllt, was am Anfang prophezeit wird: Das riesige Labyrinth bleibt ein Kunstwerk, das »nie jemand sehen wird«. Und dennoch bleibt es in der Welt, in einem wundervollen Text, der davon erzählt, bis auch er am Ende ganz unprätentiös seine eigene Auflösung »in ungezähmt zartem Violett« beschwört.

Magdalena Saiger, »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes«, Edition Nautilus, € 22,–


28.02.2023 | Jürgen Abel