Marica Bodrožićs »Die Arbeit der Vögel«

Das größere Gedächtnis

 Marica Bodrožić
Marica Bodrožić, Foto: Peter von Felbert

Klare Gattungsgrenzen gibt es in diesem Buch nicht, die Übergänge zwischen Essay, Erzählung und Poesie sind so fließend wie jene zwischen der Natur und der inneren Lebenslandschaft, die Marica Bodrožić in »Die Arbeit der Vögel« (Luchterhand) erkundet. Sie selbst bezeichnet es als ein »Denk-, Essay- und Erzählprojekt«, im Untertitel gibt sie den poetischen Takt dafür vor und nennt die kurzen Texte über eine Wanderung und ein ganzes Jahrhundert, das dabei durchschritten wird »Seelenstenogramme«. Sie verbinden eine brillante Erinnerungsarbeit über Walter Benjamin mit der Suche nach einem »weiter gefassten, großzügigeren Selbst«.

Der Philosoph, Kulturkritiker, Schriftsteller und Übersetzer Walter Benjamin war ein zutiefst undogmatischer Denker, eng verbunden mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, aber auch mit dem Dichter Bertolt Brecht. Er nahm sich im September 1940 im spanischen Grenzort Portbou das Leben, nachdem er auch dort noch befürchtete, an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Der Schmugglerpfad, auf dem er aus dem malerischen französischen Grenzort Bunyuls-sur-Mer über die Pyrenäen nach Portbou gelangte, heißt heute »Chemin Walter Benjamin« und ist ein beliebtes Touristenziel. Marica Bodrožić hat sich acht Jahrzehnte später auf den Weg gemacht, schwanger und in der kalten Jahreszeit, in der dort keine Touristen unterwegs sind.
Die 1973 in Svib/Dalmatien geborene Schriftstellerin ist 1983 nach Deutschland gekommen, Deutsch wurde zu ihrer zweiten Muttersprache, in der sie inzwischen über ein Dutzend Bücher geschrieben hat: Romane, Erzählungen, Gedichtbände und Essays, die vielfach ausgezeichnet wurden, zuletzt erhielt sie den Manès-Sperber-Preis für ihr Gesamtwerk. Sie gilt als eine der interessantesten Schriftstellerinnen der Gegenwart, ihre Texte sind im Kern immer poetisch, auch wenn es sich wie bei »Die Arbeit der Vögel« um Prosa handelt und sie den letzten Weg Walter Benjamins zum Ausgangspunkt einer großen Recherche über unsere Zeit nimmt, über die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht. Die Wanderung über die Pyrenäen wird bei ihr zu einem Denkweg, auf dem die Natur zum Auge hinter dem Auge wird, erfüllt von einem »größeren Gedächtnis«, das als synästhetisches Gefüge mitspricht und dabei mit der inneren Lebenslandschaft verschmilzt. Eingebettet in diesen Gedankenstrom sind die Schicksale und Überlebensprotokolle einer ganzen Reihe von Intellektuellen, darunter Ossip Mandelstam, Georges Bataille, Simone Weil, Warlam Schalamow, Gershom Scholem, Paolo Pasolini und natürlich immer wieder Walter Benjamin. Entstanden ist so eine überzeitliche Wanderung, die das Leben feiert – und die Unbedingtheit der Poesie.

Marica Bodrožić, »Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme« (Luchterhand), € 22,–


30.05.2023 | Jürgen Abel