Martin Doerrys deutsch-jüdische Familiengeschichte

»Lillis Tochter«

Martin Doerry
Martin Doerry, Foto: privat
Es ist ein zutiefst ergreifendes Zeitzeugnis, das der Journalist und Historiker Martin Doerry vor über 20 Jahren mit seinem Buch »Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944« vorlegte. Das Buch wurde in 19 Sprachen übersetzt und als »ein großes, ergreifendes Dokument über eine private Katastrophe inmitten der politischen« (FAZ) gefeiert. Es basiert auf Briefen von Martin Doerrys Großmutter Lilli, die in Auschwitz ermordet wurde, und von ihren fünf Kindern. In seinem neu erschienenen Buch »Lillis Tochter« (DVA) erzählt er nun die Geschichte seiner Mutter Ilse – eine deutsch-jüdische Familiengeschichte »im Schatten der Vergangenheit«.

Von einem auf den anderen Tag musste sich im Sommer 1943 die 14-jährige Ilse um ihre drei jüngeren Schwestern kümmern, nachdem ihre Mutter, die Ärztin Lilli Jahn, als Jüdin von der Gestapo verhaftet worden war. Ihre Kinder sind als »Halbjüdinnen« selbst bedroht und Repressalien ausgesetzt. Die traumatischen Erfahrungen in der NS-Zeit, der Verlust der Mutter und aller familiärer Sicherheiten prägen ihr weiteres Leben, auch wenn über Jahrzehnte kaum darüber gesprochen wird. Ilse erzählt noch nicht einmal ihren Kindern von den traumatischen Erlebenissen. In der Einleitung zu seinem Buch erklärt Martin Doerry, dass sie sich damit »über Jahrzehnte dem fügte, was der Historiker Fritz Stern als das ›feine Schweigen‹ bezeichnete, ein Schweigen, das die deutsche Nachkriegsgesellschaft zur Norm gemacht hatte, um die Täter in ihren Reihen zu schützen«. Diskriminierungen war Ilse auch noch im Nachkriegsdeutschland ausgesetzt. Erst mit der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen der inhaftierten Lilli und ihren Kindern in »Mein verwundetes Herz« begann ihre schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Einen Ort, an dem sie sich nicht ausgegrenzt fühlte, fand sie allerdings schon im Mai 1976 bei einer Rundreise durch Israel: »Hier sind alle Menschen Juden«, erzählt sie später ihrem Sohn Martin. »Endlich bist du wie alle anderen«.

Martin Doerry, »Lillis Tochter« (DVA), € 24,–

01.01.2024 | Jürgen Abel