Mathias Enards neuer Roman »Das Jahresbankett der Totengräber«

Der unaufhaltsame Lauf der Dinge

Mathias Enard
Mathias Enard, Foto: Pierre_Marquès
Mit dem inneren Monolog eines Kriegsveteranen aus dem Jugoslawienkrieg, der sich in einem einzigen Satz über sagenhafte 500 Seiten erstreckt, wurde der französische Schriftsteller Mathias Enard 2008 international bekannt. Auf »Zone«, so heißt der Roman, folgte »Kompass«, eine leidenschaftliche Beschwörung der jahrhundertelangen Passion des Westens für die orientalische Kultur. Für den Roman erhielt er in Frankreich den Prix Goncourt, und in der deutschen Literaturkritik wurde über einen Klassiker gejubelt. In diesem Sommer ist nun »Das Jahresbankett der Totengräber« (Hanser) in der deutschen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller erschienen, ein Dorfroman »für die wilden Denker«, wie es in der Widmung heißt. Es ist erneut ein höchst kunstvoll erzähltes Meisterwerk.

La Pierre-Saint-Christophe ist ein kleines Dorf mit ein paar hundert Einwohnern weit im Westen des Landes, und es ist genau jenes archetypische französische Provinznest, das der ehrgeizige junge Anthropologe David Mazon aus Paris für seine Doktorarbeit gesucht hat. Für ihn ist dieses Kaff ein Zentrum der Wissenschaft, jedenfalls in den Koordinaten seiner Träume, in denen er sich bis zu einem Sitz als Gelehrter in der Académie française vorwagt. Er mietet sich eine Einliegerwohnung auf einem Bauernhof, nennt sie nach seinem Vorbild Claude Lévi-Strauss »Das wilde Denken« und hat große Pläne für sein Forschungsprojekt: 100 Interviews mit den Dorfbewohnern sollen in mehreren Kapiteln zu Themen wie »Idiome«, »Feiern«, »Glauben« oder »Werktätige« ausgewertet werden. Bei der Lektüre seines Tagebuchs, mit dem der Roman am Tag seiner Ankunft in dem Dorf am 11. Dezember einsetzt, zeigt sich dann aber schnell, dass David für das hochtrabende Vorhaben viel zu beschäftigt mit anderen Dingen ist.
Zuerst setzt ihm der kalte Winter auf dem Lande zu, dann die Einsamkeit und endlich die Geselligkeit der Landbewohner. Da sind seine Vermieter Gary und Mathilde, da ist Martial, Bürgermeister und Bestattungsunternehmer, Thomas, der Wirt des Angler-Cafés Chez, dem wahren Zentrum des Dorfes, der Künstler Max, die Gemüsegärtnerin Luzie und ihr verschrobener Großvater, da ist Arnaud, genannt Nono, die Leuchte, die beiden Katzen Nigel und Barley, nicht zu vergessen auch die Würmerkolonie in seinem Badezimmer und die Zwergschnecken im Wohnzimmer. Nach 100 Tagebuchseiten ist David Mazon endlich auf dem Lande angekommen und findet begeistert: »die Hände im Lauch – welches Glück!« Sein Forschungsprojekt dagegen, es leidet, bis Mathias Enard die Regie übernimmt und für seinen Protagonisten den Turbo einschaltet.
In fünf Kapiteln wird der Roman auf den folgenden 300 Seiten von einem allwissenden Erzähler weitergesponnen, der ein ganzes Geflecht aus Geschichten entfaltet. Die Dorfbewohner treten dabei als Seelenreisende in unzähligen Verwandlungen auf. In den Katzen von David schlummern die Seelen eines Schriftstellers und einer Schauspielerin, die bei einem Unfall auf der nahen Nationalstraße ums Leben kamen, die Seele des Dorfpfarrers wandert weiter in einen Keiler, der sich etwas zu oft in der Gegend des Dorfes herumtreibt, die Seele eines Bauern gehörte einst einer Powerfrau und Schankwirtin. Kein Grashalm und kein Kieselstein sind vor den Seelenwanderungen sicher, mit ihnen springt der Erzähler von Ereignis zu Ereignis, cruist durch die Jahrhunderte bis in eine nahe, apokalyptische Zukunft, ruft immer wieder literarische Referenzen auf und lädt im Zentrum des Romans zum Jahresbankett der Totengräber. 99 dieser ehrenwerten Herren versammeln sich, um über die Aufnahme von Frauen in ihre Zunft abzustimmen, Reden zu halten und ein himmlisches Gelage zu feiern.
Als tragendes Rezitativ friedet den überbordenden Erzählkosmos die Geschichte einer Familie ein, die schon im Tagebuch Davids anklingt, das am Ende so unvermittelt wieder einsetzt, als sei in der Zwischenzeit nichts weiter geschehen, als sei man nicht sowieso schon schwer geläutert von diesem Geschichtengestrüpp und all seinen Kapriolen. Nein, jetzt, nachdem alles überstanden ist, mündet der Roman in staunenswerter Leichtigkeit in ein heiteres Happy End – inklusive funkelndem Liebeszauber und ländlicher Öko-Weltrettungsattitude.
Wow, so geht das also. Wenn ein Roman wie dieser gelingt, denkt man sich da, wenn es so tolle Literatur gibt, dann kann es nicht ganz und gar schlecht um die Menschheit bestellt sein. Leider muss man das mit Mathias Enard dann auch gleich wieder relativieren, denn wenn es eine Botschaft gibt, die seinem »Jahresbankett der Totengräber« eingeschrieben ist, dann ist es die, dass man sich von all den Geschichten nicht täuschen lassen sollte, auch wenn sie berührend sind, uns etwas lehren und trösten können – den Lauf der Dinge ändern sie nicht.

Mathias Enard, »Das Jahresbankett der Totengräber«, Hanser Berlin, € 26,–


10.06.2021 | Jürgen Abel