Melanie Möllers Buch »Der entmündigte Leser«

Streitschrift für die Freiheit der Literatur

Melanie Moeller
Melanie Möller, Foto: privat
Es ist ein Streit, der sich seit einigen Jahren mehr und mehr zuspitzt. Zuletzt hat es wieder einmal den Kinderbuchklassiker Otfried Preußler getroffen, nach dem ein Gymnasium in Bayern nicht mehr benannt sein wollte, weil er in seiner Jugend mit Begeisterung in der Hitlerjugend war. Es ist nur eine besonders prominent besetzte Episode in dem weiten Feld, das die »neue Moral in der Literatur« (SWR) beackert. Melanie Möller hält von all dem nicht viel, mit ihrem Buch »Der entmündigte Leser« (Galiani) hat sie ein Plädoyer »Für die Freiheit der Literatur« vorgelegt. Die Philologin sagt, dass Literatur böse sein darf und wild und auch weh tun können muss.

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der klassischen lateinischen Literatur, sie hat Monografien über Cicero, Ovid, Homer und zur Rhetorik verfasst, die Philologieprofessorin Melanie Möller, die an der Freien Universität Berlin forscht, ist eine klassische Gelehrte, die für sich in Anspruch nehmen darf, dass sie ihre Pappenheimer nicht nur in der Antike kennt, sondern auch weiß, wo und wie sie bis in die Gegenwart fortwirken. Das zeigt sich auch in ihrer »Streitschrift«, für die sie Texte aus der Antike mit Klassikern, aber auch mit Gegenwartsliteratur verknüpft, um die Tragweite des Löschens vermeintlich ›schwieriger‹ Vokabeln, von glättenden Übersetzungen und Sensitivity-Reading deutlich zu machen.

Es geht dabei um »epische Gewalt und andere Ungeheuerlichkeiten« bei Homer und in der Bibel, um »entfesselte Erotik, Skandal und Exil« bei Ovid und Joseph Brodsky, um die »Schlüpfrigkeiten und Schimpftiraden« bei Catull und Casanova, um »Entgrenzung und Obszönität« bei Petron und Céline. Anstößige und stereotype Bilder, unerträgliche Gewaltphantasien, Sexismus und »Misogynie« finden sich überall. Möller hält schon »die terminologische Fixierung« für problematisch und fordert dazu auf, die von Leser:innen möglicherweise als »heikel empfundenen Darstellungen im Einzelnen zu erfassen«, in Kommentaren zu erläutern und die Texte sonst so zu belassen wie sie sind. Sie plädiert damit einerseits für die Mündigkeit der Lesenden, sich ein eigenes Urteil zu bilden und fordert andererseits dazu auf, historische Kontexte darzustellen. Wer wollte dem widersprechen?

Bleibt zu hoffen, dass Melanie Möller mit ihrer so gelehrten wie kämpferischen Streitschrift für die »Autonomie der Literatur« dann vielleicht doch etwas zu oft die »Änderwütigen« am Werk sieht. Viele Leser:innen, an die Melanie Möller abschließend so inständig appelliert, werden in der Daueraufgeregtheit dieser Debatte leider übersehen, sie begegnen »dem geschriebenen (oder gesprochenen) Wort« ganz so wie es sein sollte: »großzügig, tolerant, weitherzig«.

Melanie Möller, »Der entmündigte Leser«, Galiani, € 25,–

01.06.2024 | Jürgen Abel