Michael Maar findet »Das violette Hündchen«
Das violette Hündchen
Michael Maar, Foto: privat
Das Geheimnis großer Literatur sei das Individuelle, erklärte Michael Maar in einem Interview mit der SZ vor einigen Jahren und räumte damit ganz nonchalant die Vorstellung ab, dass es so etwas wie eine Formel oder auch nur übertragbare Erklärung für große Literatur geben könnte. Gleichzeitig weist er aber auch auf etwas hin, an das er mit seinem neuen Buch anknüpft, nämlich dass es »keine große Literatur ohne markante Details« gibt, die sogar ganz für sich stehen können, die sich nicht »durch einen Oberbegriff ersetzen oder zusammenfassen« lassen und trotzdem eine zentrale Rolle spielen können. Ein Beispiel dafür ist ein lilafarbenes Hündchen mit »kurzen, krummen Beinen«, das zur Handlung in Tolstois monumentalem Roman »Krieg und Frieden« rein gar nichts beiträgt und dessen Fehlen folglich niemandem als Lücke auffallen würde. Dennoch ist es vielleicht dieses Hündchen, das von der Lektüre des Romans in Erinnerung bleibt.
Das Hündchen taucht in Michael Maars Streifzug durch die Weltliteratur dann immer wieder auf, mal als »Humberts Hündchen«, das in Nabokovs »Lolita« eine Plot-entscheidende Rolle spielt, mal im Blick auf Tschechows »Die Dame mit dem Hündchen« und oft auch nur als Leitmotiv, das schon in dem Motto von Nabokov anklingt, das dem Buch vorangestellt ist: »Caress the detail, the divine detail«. Als Ankerpunkte öffnen diese »göttlichen Details« den Blick aufs Große und Ganze. Bei Charles Dickens sind es Krähen, die in seinem Roman »Bleak House« allgegenwärtig sind und »von einem Schauplatz zum anderen« führen. In »Mrs. Dalloway« von Virginia Woolf ist es ein »Reklameflugzeug, das im ersten Kapitel des Romans die Augen der Passanten auf sich zieht«. Bei Colette erklärt Michael Maar die stilistische Brillanz der Autorin anhand ihrer Reaktion auf einen an sie gerichteten »Zettel« von ihrer Mutter auf dem Sterbebett – und findet erst nach einem »langen Vorlauf« über das Leben der bis heute in Frankreich als Nationalheilige stilisierten Autorin »endlich zur Literatur«.
Es sind meist kurze Stücke, mit denen der Germanist auch in der Gegenwartsliteratur funkelnde Details aufgreift, um durch sie über Plot, Dramaturgie und Stil zu befinden, und Kreuz- und Querbezüge durch die Jahrhunderte und Literaturen aufzudecken, ob bei Daniel Kehlmann, Martin Walser, Jonathan Franzen oder Salman Rushdie. Und zum Abschluss gibt es, neben einer sehr langen Liste mit Anmerkungen und Nachweisen, auch noch den Hinweis darauf, dass dieses Buch »keinerlei kanonischen Anspruch« erhebt – und doch mit der Literaturliste eine Einladung liefert, sich auf eine eigene Lesereise in die Weltliteratur zu begeben.
Michael Maar, »Das violette Hündchen«, Rowohlt, € 34,–.
12.08.2025 | Jürgen Abel


