Mirko Bonnés neuer Gedichtband »Wege durch die Spiegel«

Was vom Wind abhängt

Mirko Bonné
Mirko Bonné, Foto: Beowulf Sheehan
In seiner großen poetischen Fülle und Brillanz ein Ereignis: Gelehrt, witzig, verspielt und getragen vom großen Formenreichtum moderner Lyrik, das ist Mirko Bonnés neuer Gedichtband »Wege durch die Spiegel« (Schöffling & Co.). Und es ist ein schönes Buch, das sich mit drei Wespen auf dem Cover vor einem großen, knallgelben B und einem Gedicht über die »Guêpes« auch sehen lassen kann. Erst im Frühjahr wurde Mirko Bonné in Hamburg mit dem Hubert-Fichte-Preis ausgezeichnet, das große Lesepublikum in Deutschland kennt ihn vor allem durch seine Romane, er gilt aber auch als einer der bedeutendsten deutschen Dichter der Gegenwart.

Mit den Großen der Literaturgeschichte ist Mirko Bonné seit eh und je per Du, er hat schon als junger Dichter John Keats übersetzt, die deutsche Literatur verdankt ihm die erste vollständige Übersetzung des »Endymion«, aber auch Übersetzungen von William Butler Yeats, Oscar Wilde, Robert Creeley, Joseph Conrad oder Sherwood Anderson. In seinen Gedichten sind vor allem jene stets präsent, die ihm in die Moderne vorangegangen sind: Dem russischen Dichter Joseph Brodsky hinterlässt er bei einem Besuch auf der Friedhofinsel San Michele in Venedig an dessen Grab einen »Brief« mit einem Gruß »aus der Zeit und / Welt ohne Dich«. Es ist ein schlichtes Gedicht und eines der schönsten des neuen Gedichtbandes, weil es den Schmerz so beiläufig mit der »Lagunenmücke / schmal und hellblau« einpreist wie die Schönheit. Dem »Windsohlenmann« Arthur Rimbaud begegnet er vor dem »Hôtel de l'Univers« im Jemen, mit Vincent van Gogh streift er durch Arles und sieht in »Brinkmann in Westerstede« ein »Gespenst aus dem Dampf enger Träume«.

Orpheus, den Dichter und Sänger der Antike, lässt er gleich zum Auftakt des Bandes seiner Eurydike zurufen: »Wach auf, mein Herz, und weise wisse / Wir haben bei Weitem noch nicht alles geliebt«. Es ist eine Anrufung, die den Band als Grundtenor und berührendes Plädoyer für Lebendigkeit und Offenheit vom ersten Kapitel mit »Kurznachrichten aus der Unterwelt« über »Skorpione« und »Wege durch die Spiegel« bis zur finalen »Fliehkraft« begleitet, die er in »Gegen den Uhrzeigersinn« beschwört.

»So komm! Dass wir das Offene schauen« kann man mit Hölderlin als Leitmotiv dieser Gedichte aufrufen und muss es dann doch ergänzen um die leise Vanitas-Klage, von der die »Wege durch die Spiegel« eben auch durchweht sind. Ein wundervolles Gedicht, in dem beides zusammenkommt, heißt »Die Ameisen«, es verrät, was vom Wind abhängt und in der »Krone der Zieraprikose« steht. Und gleich daneben schwärmen dann die Wespen aus – »mit zweihundert in jede Richtung / gleichzeitig äugenden Augen«.
Mirko Bonné, »Wege durch die Spiegel« (Schöffling), € 22,–

10.08.2025 | Jürgen Abel