Nelio Biedermanns Debütroman »Lázár«
Ein vor Jahren geträumter Traum
Das Cover ist ein Hingucker, es zeigt Gandalf, einen weißen Lipizzanerhengst, in einem Gemälde von Jaime Corum »mit Dame und Einhornteppich« und spiegelt sehr treffend den Mix aus Gesellschafts- und Familiensaga mit märchenhaften Motiven, die den Roman vor allem zu Beginn aufladen. Im Zentrum steht eine Familie, die in Ungarn zur Zeit der Habsburgermonarchie Schlösser und Ländereien besitzt und von Bediensteten umsorgt wird. Familiensitz ist ein Waldschloss, in dem nur wenige Tage nach der Jahrhundertwende Lajos von Lázár geboren wird, ein Kind, »unter dessen transparenter Haut man die kleinen Organe sehen« kann. Das »Glaskind« ist nur ein erster Hinweis auf die Fragilität, der die Familie mit dem anbrechenden 20. Jahrhundert ausgesetzt ist. Während zu Beginn noch dunkle Wesen auf die »Schattenstraßen« im nahen »Waldgewebe« locken, zeigt sich bald, dass die heraufdämmernde Moderne viel größeres Unheil bringt und das privilegierte Leben sich so wenig festhalten lässt, wie »ein vor Jahren geträumter Traum«.
In der Lebenszeit von Lajos vollzieht sich der Abstieg der Familie bis ins Proletariat im Budapest der Nachkriegszeit. Der Roman endet mit der Flucht seiner Kinder Eva und Pista nach dem Ungarnaufstand 1956 in den Westen. Eingebettet in die innerfamiliären Beziehungen, die Liebschaften, Irrungen und Wirrungen zeigt der Roman wie in einem Brennglas auf nur etwas mehr als 300 Seiten die Umbrüche im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts. Und im Hintergrund erweist Nelio Biedermann dann auch noch einem Kanon großer Literatur seine Referenz: E.T.A. Hoffmann und Arthur Schnitzler, Marcel Proust und Virginia Woolf, Carl Zuckmayer hat sogar einen Gastauftritt in einem Zugabteil. Das mag stellenweise etwas zu viel sein, auch Kitsch und missglückte Bilder moniert manche Kritik, dennoch ist »Lázár« ein packender Pageturner, der berührt und glänzend unterhält.
Nelio Biedermann, »Lázár« (Rowohlt), € 24,–
30.11.2025 | Jürgen Abel


