Nicole Seiferts Buch »Einige Herren sagten etwas dazu«

Vorgelesen, gerupft worden und fallen gelassen

Barbara Kingsolver
Nicole Seifert, Foto: Katja Scholtza
Eine vergleichbar machtvolle literarische Institution gab es danach nie wieder: Die Gruppe 47 hat den deutschen Literaturbetrieb für Jahrzehnte geprägt, auch lange nach dem Ende ihrer berühmten Tagungen war sie durch einige ihrer Protagonisten noch richtungsweisend für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur. Die Hamburger Autorin und Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert, die seit Jahren über Schriftstellerinnen, ihre Literatur und ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft forscht, schreibt und publiziert, erzählt in ihrem neuen Buch »Einige Herren sagten etwas dazu« (Kiepenheuer und Witsch) nun von den »Autorinnen der Gruppe 47«.

Am 10. September 1947 trafen sich u.a. Hans Werner Richter, Wolfgang Bächler, Isolde und Walter Kolbenhoff, Alfred Andersch, Wolfdietrich Schnurre, Nicolaus Sombart und Günter Eich, um eine Literaturzeitschrift zu gründen, erhielten dafür von den Besatzungsmächten in Deutschland aber keine Publikationslizenz. Stattdessen wurde das Treffen zur Gründungsveranstaltung einer Autorenvereinigung, die als Gruppe 47 schnell bekannt wurde. Charakteristisch für die Arbeits- und Diskussionsatmosphäre wurde die unausgesprochene Dominanz Hans Werner Richters, der zu den Treffen einlud, die demonstrative Nicht-Organisation, die Härte und Offenheit der Kritik und das Verbot der Vorlesenden, sich zu verteidigen.

Die Gruppe traf sich insgesamt 29 Mal und verwandelte sich bald von einer Werkstatt in eine literarische Börse. Der bei den Treffen vergebene »Preis der Gruppe 47« wurde zum wichtigsten Literaturpreis im Nachkriegsdeutschland, fast alle bekannten Vertreter:innen der deutschen Nachkriegsliteratur fanden sich Mitte der Sechzigerjahre unter dem Signum der Gruppe – und die meisten waren Männer. Um sie geht es vorwiegend in der bisher prominentesten Publikation von Helmut Böttiger über »Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb«. Geforscht und geschrieben wurde aber auch schon über die Autorinnen der Gruppe: Die Germanistin Wiebke Lundius weist in ihrem 2017 erschienen Buch »Die Frauen in der Gruppe 47« (Schwabe Verlag) nach, dass Autorinnen wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Gisela Elsner, Gabriele Wohmann und Helga M. Novak wesentlich zur erfolgreichen Positionierung der Gruppe beitrugen.

. Nicole Seifert geht in ihrem neuen Buch »Einige Herren sagten etwas dazu« von der These aus, dass die »kulturell tief verankerte Diskriminierung weiblichen Schreibens« der Grund dafür ist, dass »die große Mehrheit der Autorinnen der Gruppe 47 nachträglich aus der Gruppen- und der Literaturgeschichte getilgt wurde«. Ob deshalb »zwingend die deutsche Gegenwartsliteratur neu zu denken, die literarische Landschaft neu zu ordnen« ist, wie der Kiepenheuer und Witsch Verlag in seiner Ankündigung des Bandes fordert, sei hier dahingestellt, fest steht, dass es mit diesem Buch von Nicole Seifert vieles neu oder wieder zu entdecken gibt: »Gabriele Wohmann zwischen Verkennung und Anerkennung«, »Gisela Elsners Satiren auf die Wohlstandsgesellschaft«, die Gedichte von Helga M. Novak, Elisabeth Borchers – und Griseldis Fleming, die 1964 nach ihrem Besuch der Tagung an Hans Werner Richter schrieb, dass sie nach »Vorlesen, Gerupftwerden, Fallengelassen« mit »der Resignation eines verabschiedeten Buerogehilfen« abgereist sei.

Nicole Seifert, »Einige Herren sagten etwas dazu« (Kiepenheuer & Witsch), € 24,–

01.03.2024 | Jürgen Abel