Nora Bossongs Roman »Reichskanzlerplatz«
Was ihr seid, das waren wir
Nora Bossong, Foto: Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag
Ganz am Ende blickt der Ich-Erzähler Hans Kesselbach auf dem Friedhof Pritzwalk in Brandenburg auf den »metallenen Schriftzug« dieses Mementos. Er hat einen Strauß mit gelben Nelken dabei, den er in Erinnerung an seinen Schulfreund und seine Jugendliebe Hellmut Quandt zur Grabkapelle der Familie bringen will. Errichtet wurde sie zu Ehren von Emil, dem Begründer der Industriellenfamilie Quandt, die bis heute mit einem Milliardenvermögen zu den wirtschaftlich mächtigsten und reichsten Familien des Landes gehört. Für Hans ist es da längst zu spät, die Ermahnung ernst zu nehmen, er ist ein kleiner Mitläufer und Mittäter, der dem Regime treu diente und zuletzt eine Scheinehe plante, um seine Karriere als Beamter nicht durch seine Homosexualität zu gefährden.
Nora Bossong begleitet ihn mit ihrem Roman durch einen Zeitraum von über 20 Jahren, eine »Fußnote der Geschichte«, wie Hans von sich selbst sagt, dank Magda, der Stiefmutter Hellmuts, mit der ihn eine folgenreiche Affäre verbindet. Durch Hans findet die Tochter eines Dienstmädchens einen Weg aus ihrer Ehe mit dem doppelt so alten Industriellen Quandt und steigt bald zur heimlichen First Lady des Berliner Politikbetriebes auf. Magda Goebels bringt sieben Kinder zur Welt und wird als Vorzeigemutter ihrer Zeit stilisiert. Die Vornamen ihrer Kinder beginnen alle mit einem H, einem H wie Hitler. Zwei Menschen in der Maschinerie historischer Ereignisse, unterschiedlich verstrickt in ein tiefes Lügengespinst, in dem das ganze Land gefangen ist, unterschiedlich schuldig geworden und das auch an sich selbst, an ihren Aufgaben und Möglichkeiten.
Nora Bossong, »Reichskanzlerplatz«, Suhrkamp Verlag, € 25,–
01.09.2024 | Jürgen Abel