Nora Bossongs Roman »Reichskanzlerplatz«

Was ihr seid, das waren wir

Nora Bossong
Nora Bossong, Foto: Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag
In einer Legende, die in kleinen Variationen seit dem 11. Jahrhundert in Mitteleuropa erzählt wird, begegnen drei hochmütige Edelleute drei schaurigen Skeletten, die sie an die Endlichkeit all ihrer irdischen Umtriebe erinnern und zu Demut und Bescheidenheit auffordern. »Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr«, rufen sie ihnen zu. Nora Bossong hat dieses »Memento mori« ihrem neuen Roman »Reichskanzlerplatz« (Suhrkamp) vorangestellt, und es ist mehr als nur das einleitende Zitat zu einem Roman, der ein berückendes Geschichtsbild aus einer Zeit entwirft, die nicht lange zurückliegt, man kann es auch als eine böse Prophezeiung und eine Warnung an die Gegenwart lesen, die diesen Roman begleitet.

Ganz am Ende blickt der Ich-Erzähler Hans Kesselbach auf dem Friedhof Pritzwalk in Brandenburg auf den »metallenen Schriftzug« dieses Mementos. Er hat einen Strauß mit gelben Nelken dabei, den er in Erinnerung an seinen Schulfreund und seine Jugendliebe Hellmut Quandt zur Grabkapelle der Familie bringen will. Errichtet wurde sie zu Ehren von Emil, dem Begründer der Industriellenfamilie Quandt, die bis heute mit einem Milliardenvermögen zu den wirtschaftlich mächtigsten und reichsten Familien des Landes gehört. Für Hans ist es da längst zu spät, die Ermahnung ernst zu nehmen, er ist ein kleiner Mitläufer und Mittäter, der dem Regime treu diente und zuletzt eine Scheinehe plante, um seine Karriere als Beamter nicht durch seine Homosexualität zu gefährden.

Nora Bossong begleitet ihn mit ihrem Roman durch einen Zeitraum von über 20 Jahren, eine »Fußnote der Geschichte«, wie Hans von sich selbst sagt, dank Magda, der Stiefmutter Hellmuts, mit der ihn eine folgenreiche Affäre verbindet. Durch Hans findet die Tochter eines Dienstmädchens einen Weg aus ihrer Ehe mit dem doppelt so alten Industriellen Quandt und steigt bald zur heimlichen First Lady des Berliner Politikbetriebes auf. Magda Goebels bringt sieben Kinder zur Welt und wird als Vorzeigemutter ihrer Zeit stilisiert. Die Vornamen ihrer Kinder beginnen alle mit einem H, einem H wie Hitler. Zwei Menschen in der Maschinerie historischer Ereignisse, unterschiedlich verstrickt in ein tiefes Lügengespinst, in dem das ganze Land gefangen ist, unterschiedlich schuldig geworden und das auch an sich selbst, an ihren Aufgaben und Möglichkeiten.

Nora Bossong, »Reichskanzlerplatz«, Suhrkamp Verlag, € 25,–

01.09.2024 | Jürgen Abel