Olli Jalonens »Die Himmelskugel«
An der Nahstelle einer neuen Zeit
Olli Jalonen, Foto: Pekka Nieminen
Angus ist noch ein kleiner Junge, als 1676 Edmond Halley Station auf St. Helena nimmt. Der Astronom, Mathematiker und Kartograph vermisst auf der fernen Insel im Südatlantik für ein Jahr die Sterne der südlichen Hemisphäre und das höchst erfolgreich, obwohl er mit 20 Jahren noch sehr jung ist. Die Eltern von Angus, der uns seine Geschichte in diesem Roman erzählt, sind nach dem großen Brand von London 1666 nach St. Helena ausgewandert, weil dort Land verteilt wurde. Doch die Pläne der Familie zerschlagen sich, sein Vater kommt noch vor der Geburt von Angus ums Leben. Es ist ein Glückfall, dass Halley bei seinem Aufenthalt »ein Gefäß« in dem Jungen sieht, das sich willig mit Wissen auffüllen lässt.
Er bekommt eine Aufgabe von dem Astronomen, die ihn jahrelang beschäftigt: Von der Astgabel eines Baumes aus zählt er tagsüber die Vögel und nachts die Sterne, immer in genau derselben Blickrichtung. Auch noch lange nach Halleys Abreise ist er ein fleißiger »Aufzeichner« und vermerkt akribisch Zahlen in Kalender, die ihm aus London geschickt werden. Was für Halley als Experiment eher ein Spaß mit einem »Yambsbengel« ist, wie sein Begleiter Clarke den Jungen herablassend nennt, wird für Angus zu einer Schule der Beobachtung.
Zu Beginn des Romans ist sein Erleben noch ganz voller Unschuld, doch auch wenn er die Gesten und kleinen Momente, die er aus seiner Umgebung einfängt und erzählt, noch nicht deuten kann, um Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, ergibt sich nach und nach das Bild einer grausamen Lage. Während der wissbegierige Junge beim Pastor lesen und schreiben lernt, geraten seine Mutter, seine ältere Schwester und die beiden unehelichen Kleinkinder in der Familie in den Fokus von religiösen Fanatikern. Eines der Kinder verschwindet bald spurlos, das andere taucht verstummt und völlig verstört wieder auf. Gewalt, Missbrauch und Tyrannei prägen den Familienalltag, und das ändert sich auch nicht, als sie im Zweihäuserhof des Pastors im Kapellental unterkommen, wo die gesamte Nachbarschaft sie anfeindet. Alle Hoffnung richtet sich schließlich auf Angus, er wird auf ein Schiff geschmuggelt und nach London geschickt, um Edmond Halley einen verzweifelten Hilferuf zu überbringen. Mit 14 Jahren kommt er am Ende seiner Heldenreise als Gehilfe von Halley auf dem Gipfel des Mount Snowdon in Wales an, wo sich ihm »die ganze Größe der Welt öffnet«, und er beschließt, auch in Zukunft seinem großen Vorbild und Lehrer nachzueifern. Wie Olli Jalonen in diese Abenteuergeschichte das allmähliche Heranreifen und Erwachen eines die Natur beobachtenden Jungen zu einem analysierenden und reflektierenden Intellektuellen eingewoben hat, ist große Kunst. Über die »Wissensangelegenheiten« sagt Angus am Ende: »Auf etwas Neues zu kommen, heißt, dass man etwas messen kann, nachdem man die Art gefunden hat, wie man es misst.«
Olli Jalonen, der zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Skandinaviens gehört und für »Die Himmelskugel« zum zweiten Mal mit dem renommierten Finlandia-Preis ausgezeichnet wurde, hat eine Form dafür gefunden, das, was Aufklärung bedeutet, für einen Gegenwartsroman so zu übersetzen, dass der historische Kontext stets präsent bleiben kann. Das liegt vor allem an der Sprache, in der einerseits glaubhaft der Duktus eines Kindes und gleichzeitig eine vergangene Zeit anklingen. Gar nicht hoch genug anzurechnen ist nun das Verdienst des Übersetzers Stefan Moster, er hat für diesen Roman den adäquaten Sound im Deutschen entwickelt.
Olli Jalonen, »Die Himmelskugel«, Mare, € 26,–
28.11.2021 | Jürgen Abel