Raphaela Edelbauers neuer Roman

»Man nennt sie: Inkommensurable«

Raphaela Edelbauer
Raphaela Edelbauer, Foto: Apollonia Bitzan
In ihrem neuen Roman »Die Inkommensurablen« führt Raphaela Edelbauer an einen Kipppunkt des 20. Jahrhunderts. Es ist der 30. Juli 1914, und die pulsierende Weltmetropole Wien wird von einem kollektiven Rausch heimgesucht, mit dem vor allem das Bürgertum im Deutschen Reich und Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg taumelt. Während der Countdown zur Mobilmachung läuft, begleitet der Roman drei junge Menschen für 24 Stunden auf einer orgiastischen Tour d’Horizon durch Wien, bei der bald alle Gewissheiten auf dem Prüfstand stehen.

Kollektive Bewusstseinszustände leuchtet Raphaela Edelbauer auch in ihren beiden bisherigen Romanen aus: In ihrem Debüt »Das flüssige Land«, »einem philosophisch-phantastischen Roman« (ORF), ist sie dem Umgang Österreichs mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auf der Spur; um Künstliche Intelligenz geht es in ihrem fulminanten Science-Fiction-Roman »Dave«, für den sie mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Und vordergründig ist auch »Die Inkommensurablen« wieder ein Genre-Roman, lustvoll und höchst unterhaltend wird zum Auftakt ein historisches Panorama aufgefächert, das, wie sich am Ende zeigt, nur die Kulisse für eine sehr gegenwärtige Parallelaktion bildet.
In dem vom Weltgeist beseelten Wien, der vielsprachigen Metropole eines Vielvölkerstaates, kommt am 30. Juli 1914 der 17-jährige Bauernknecht Hans aus Tirol an, übernächtigt, überwältigt und auf dem Weg in die nächste Kaserne, wie alle vermuten, mit denen er ins Gespräch kommt. Doch tatsächlich zieht es ihn nicht in den Krieg, sondern in die Praxis von Helene Cheresch. Er hofft, bei der Psychoanalytikerin mit dem Fachgebiet »Massenhysterien und parapsychologische Affekte«, eine Psychoanalyse machen zu können, sie soll ihn von den »Gedankenechos« befreien, die ihn immer wieder heimsuchen. Die berühmte Analytikerin empfängt ihn auch tatsächlich und vertröstet ihn dann auf den kommenden Tag. Noch in der Praxis lernt er den adligen Offizier Adam und dann Klara kennen, die beide selbst dort in Behandlung und befreundet sind. Sie nehmen sich des Neulings ohne Unterkunft und Anschluss an und bilden, wie sich bald zeigt, als Trias einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft ihrer Zeit.
Während Klara aus dem Wiener Lumpenproletariat stammt, gehört Adam zur Aristokratie und Hans steht für die bäuerliche Landbevölkerung. Doch es gibt etwas, das sie verbindet: Sie sind »Inkommensurable«, das heißt, auch wenn sie klar einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht entsprechen, gibt es für sie, wie Klara erklärt, doch »kein gemeinsames Maß« mit ihren Herkunftsfamilien. Der früh verwaiste Hans erweist sich als vielbelesener Literaturkenner, Adam, der Sprössling einer zackigen Soldatendynastie, als hochbegabter und feinsinniger Musiker, und Klara soll am nächsten Tag als eine der ersten Frauen der Universität Wien im Fach Mathematik promoviert werden. Der Vortrag zu ihrer Promotion ist als Essay über die irrationalen Zahlen in den Roman integriert, Titel: »Die Inkommensurablen«. Doch als wie resilient erweisen sich diese drei Helden und Träumer gegenüber den Anfechtungen einer Masseneuphorie, wie verhalten sie sich dazu, wie gehen sie damit um?
Für eine Nacht schickt Raphaela Edelbauer sie auf eine Reise, um genau diese Fragen zu erkunden – und lässt keinen Zweifel daran, dass ihre »Inkommensurablen« doch Kinder ihrer Zeit sind. Gleich zum Auftakt kombiniert sie die Geschichte des Skandals um Schönbergs zweites Streichquartett, das 1908 in Wien uraufgeführt wurde und eine Zeitenwende in der Musik einleitete, mit einer handfesten Schlägerei der Konfliktparteien des kommenden Weltkrieges auf der Probebühne der Wiener Musikakademie. Mittendrin sind der Soldatensohn Adam, der Bauernknecht Hans und hinzu eilt die Mathematikerin Klara. Danach geraten sie direkt von einem großbürgerlichen Abendessen in einen babylonischen Underground, mit dem dieser Roman plötzlich in der Inszenierung einer rauschhaften queeren Gegenkultur ankommt.
Spätestens hier wird deutlich, dass Raphaela Edelbauer, auch wenn der Roman die historische Kulisse nie verlässt, stets die Gegenwart im Blick hat und Massensuggestionen, die uns heute umtreiben. Dass die »virtuose Diskurs-Jongleurin« (Helmut Böttiger) an Robert Musils großen Roman »Mann ohne Eigenschaften« anschließt, wird dabei fast zur Nebensache und ist doch ein Ereignis, denn mit ihren »Inkommensurablen« gibt Raphaela Edelbauer eine gültige Antwort darauf, was Literatur heute im besten Fall zum Verständnis der Welt beitragen kann.

Raphaela Edelbauer, »Die Inkommensurablen«, Klett-Cotta, € 25,–


28.02.2023 | Jürgen Abel