Ronya Othmanns Buch »Vierundsiebzig«

Ferman 74

Ronya Othmann
Ronya Othmann, Foto: Paula Winkler
Schon ihrem Roman »Die Sommer«, für den sie 2020 mit dem Mara-Cassens-Preis des Hamburger Literaturhauses für den besten deutschsprachigen Debütroman ausgezeichnet wurde, hat sie voller Zärtlichkeit und Wut über das Leben zwischen zwei Welten erzählt. In diesem Frühjahr knüpft Ronya Othmann mit ihrem zweiten Roman »Vierundsiebzig« (Rowohlt) daran an. Bereits 2019 hat sie für das Auftaktkapitel den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gewonnen. Der Roman erzählt vom Genozid an den Jesiden 2014 und ist ein Zeitzeugnis von internationaler Relevanz im Stil einer Reportage.

Wie schreibt, wie spricht, wie erzählt man über einen Genozid? Ronya Othman macht gleich zum Auftakt von »Vierundsiebzig« deutlich, dass sie von etwas erzählt, »wofür wir keine Worte haben«. Und doch ist es möglich von dem »Ferman«, so nennen die Jesiden (in der Eigenbezeichnung Eziden oder Êzîden) die an ihnen verübte systematische Verfolgung und Ermordung, zu erzählen, auch wenn »die Sprachlosigkeit« den Text strukturiert. Die Zahl »Vierundziebzig«, die dem Roman den Titel gegeben hat, leitet sich aus der Zählung der Massaker ab, denen die Volksgruppe und Religionsgemeinschaft der Jesiden seit der Zeit des Osmanischen Reichs ausgesetzt waren. Begonnen hat der Ferman 74 am 3. August 2014 mit dem Überfall fanatischer Anhänger des Islamischen Staats auf das Dorf Kotscho. Ronya Othman, die 1993 als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters in München geboren wurde, erzählt von dem Genozid in Form einer Reportagereise zu den Tatorten. Sie ist in die Camps und an die Frontlinien gereist, hat Verwandte und Betroffene besucht, Bilder und Berichte mit ihrer eigenen Geschichte verbunden, mit ihrem Leben als Journalistin und Autorin in Deutschland, wo heute die größte Diaspora der Jesiden lebt. Ihnen hat Ronya Othmann mit ihrem Buch eine Stimme gegeben.

Ronya Othmann, »Vierundsiebzig« (Penguin), € 26,–

30.03.2024 | Jürgen Abel