Der neue Erzählband von Saša Stanišić

Realität, Täuschung und Illusion

Saša Stanišic, Foto: Katja Sämann
Was wäre, wenn wir zuerst einmal ausprobieren könnten, ob uns das auch passt, was die Zukunft bringt? In diesen Proberaum des Lebens lädt Saša Stanišić mit seinem meisterhaft komponierten neuen Buch »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« (Luchterhand).

Zu Beginn geht es mit Freunden des Schülers Saša Stanišić kurz vor den Sommerferien hoch hinaus, nämlich in die Weinberge über dem Neckartal in Heidelberg. Die Jungs kommen alle aus prekären Verhältnissen, man ahnt schon die vorgezeichneten Lebensläufe, aber dann wirft einer von ihnen ein Was-wäre-wenn-Szenario auf, das ausgiebig diskutiert wird, bevor sie sich von den Reiseplänen für den Sommer erzählen. Was wäre, wenn wir uns im schicksalhaften Moment einer möglichen Zukunft umschauen könnten, bevor wir entscheiden, ob wir sie für uns »einloggen« wollen? Damit ist die Ausgangssituation aufgeworfen.

In der folgenden »Traumnovelle« drückt der »Fallensteller« Saša Stanišić in Wien für die Putzfrau Dilek dann die Pausentaste und die Zeit bleibt stehen oder ist es in Wirklichkeit Dileks Herz? Wichtig ist hier eigentlich nur, dass Dilek endlich die Freiheit findet, ihrer unverschämten Dienstherrin, die sich nicht wehren kann, einen »schwungvollen Schnurrbart« zu malen. Später zeigt sich dann, dass hier fast alles mit allem zusammenhängt, also hat auch Dilek noch einen Auftritt, aber davon ist vielleicht sogar der Autor selbst überrascht. 2023 wird er auf Helgoland im »Inselkrug« in einer Binnenerzählung seiner eigenen Geschichte mit einer früheren Version von sich und mit dem Vorwurf eines dramatischen Diebstahls konfrontiert.

War er tatsächlich nach dem Ausflug mit seinen Freunden in die Weinberge im Urlaub auf Helgoland? Er erinnert sich an nichts. Später erklärt der Schriftsteller Saša Stanišić dann vor einer Lesung in Heidelberg in der Gegenwart auf einem Hochsitz im Wald die Zusammenhänge, Heinrich Heine spielt dabei eine Rolle und eine Vogelfamilie und ein Stapel mit Büchern. In dieser idyllischen Waldeinsamkeit hat er viele Jahre zuvor in den Sommerferien gelernt, dass wer Geschichten erzählt, Erinnerung konstruiert – und sich damit im Möglichkeitsraum der Literatur auch neu erfinden kann. Auf dem Buch steht keine Gattungsbezeichnung, ob Roman oder Erzählband, man kann es so oder so lesen, also ganz wie man möchte, aber es empfiehlt sich doch, eine kleine Regieanweisung zu beachten, die der Autor vorangestellt hat: »Bitte der Reihe nach lesen.« Wer sich daran hält, wird durch Querbezüge in den Geschichten belohnt, die sich gegen Ende, wenn man das will, sogar zu einem experimentellen Science-Fiction-Roman ganz ohne Raumschiffe und Cyberwar zusammenfügen lassen. Vorangetrieben wird die Handlung jedoch nicht nur von dem höchst subtilen Spiel mit Realität, Täuschung und Illusion, sondern von einer grandiosen sprachlichen Mikroökonomie.

Saša Stanišić, »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne«, Luchterhand, € 24,–

01.10.2024 | Jürgen Abel