Sigrid Behrens´neuer Roman »Gute Menschen«

Ein beinahe perfektes Glückskleeblatt

Sigrid Behrens
Sigrid Behrens, Foto: Inga Seevers
Sie ist eine glückliche Frau und Mutter und verlässt plötzlich ihr ganz wunderbar eingerichtetes Leben, die Kinder und den geliebten Mann, das gemeinsame Haus. Sie verlässt eine Idylle für eine ungewisse Zukunft. Warum? Wofür? Das ist das Ausgangsszenario des neuen Romans »Gute Menschen« (Minimal Trash Art) von Sigrid Behrens. In einer so lakonischen wie berührenden Collage aus Stimmen der Protagonisten und ihrer Freunde unternimmt der Roman eine vielschichtige Ermittlung. An deren Ende steht die verstörende Erkenntnis, dass es auf eine Erklärung vielleicht gar nicht so sehr ankommt, sondern viel mehr auf das, was wir tun – oder unterlassen.

Den Binnenraum von Familien aus der Perspektive starker Frauen hat Sigrid Behrens in ihrer Literatur immer wieder ausgeleuchtet und dabei vor allem die schon klassischen Verwerfungen und Brüche in den Blick genommen, die sich durch veränderte Familienstrukturen ergeben. In ihrem neuen Roman »Gute Menschen« (Minimal Trash Art) geht die vielfach ausgezeichnete Autorin und Dramatikerin einen anderen Weg. Ihr Ausgangspunkt ist das beinahe perfekte »Glückskleeblatt« um das sich eine bürgerliche Kleinfamilie gruppiert: Andreas, ein Zahnarzt, Spezialgebiet Prothesen, seine Frau Claire, eine Typografin, die sich »für Spationierungen, für Laufweiten, Grauwerte und anständige Unterschneidungen« interessiert, haben sich zu einer »traumhaften Passformexistenz« zusammen gefunden. Gemeinsam mit ihren beiden pubertierenden Kindern Dalia und Boris führen sie das gutsituierte Leben typisch linksliberaler Großstädter der Gegenwart, gebildet, kritisch – und schließlich auch engagiert. Als sie gemeinsam einen Verein gründen, der sich für Geflüchtete einsetzt, gerät ihr wohlsortierter Alltag nach und nach aus den Fugen. Claire mutiert zur überzeugten Aktivistin und ordnet bald schon alles ihrem Engagement unter, bis sie nach einem nächtlichen Gespräch mit einer Geflüchteten beschließt, einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen und ihren »Platz auf der Sonnenseite dieses Planeten« aufzugeben.

Sigrid Behrens rollt das Geschehen im kurzen Zeitfenster des Tages aus, an dem Claire die Familie verlässt. Abwechselnd im Fokus auf Andreas und auf Claire entfaltet sich die Geschichte ihres gemeinsamen Lebens und all der oft hilflosen Versuche von Begründungen und Erklärungen dafür, warum es nun endet. Aus dem Off kommentieren die Freunde ihren Blick auf das Paar und die Geschehnisse. Da schwärmt »Freund L.« ganz profan über die Schönheit von Claires Händen, »Freundin E.« weiß, dass sie »wirklich nicht sagen kann, woran es gelegen hat, aber irgendwie haben die beiden es immer hingekriegt «. Und »Freund K.« erklärt: »Na ja, die beiden hatten schon irgendwann ihren Ruf weg, wie es halt so geht, wenn man sich engagiert, und ihr Viertel ist da wirklich ein Dorf«.

Das Glück sei im Grunde nichts anderes, als der mutige Wille zu leben, heißt es bei dem französischen Schriftsteller Maurice Barrès (1862 - 1923), und es würde sich erfüllen, indem man die Bedingungen des Lebens annehme. Es ist genau dieser Preis, den Claire nicht mehr bezahlen will, für sie ist die Zeit für etwas Neues angebrochen, sie will etwas verändern, und das Glück ist ihr dabei nur ein Hindernis, obwohl es ihr auch auf dem Flug in eine andere, sehr fremde Welt immer noch als heimlicher Zweifel im Nacken sitzt.

Sigrid Behrens, »Gute Menschen«, Minimal Trash Art (MTA), € 18,-


29.10.2022 | Jürgen Abel