Silke Stamms neuer Roman »Hohe Berge«

Alle Sinne auf Anfang

Silke Stamm
Silke Stamm, Foto: Andreas Hornoff, Piper Verlag
In so ausholenden wie eleganten Satzschwüngen von manchmal mehr als einer Seite erzählt Silke Stamm in ihrem neuen Roman »Hohe Berge« (Berlin Verlag) von einem Ausflug in schwieriges Gelände. Bei einer Skiquerung im Hochgebirge kommen die Tourengänger an ihre Grenzen, bis alle Sinne auf Anfang stehen. Doch es wird nicht nur von einem einmaligen Abenteuer erzählt, auch die Lektüre selbst ist ein ungewöhnliches Leseerlebnis und brennt sich durch eine höchst kunstvolle Erzählweise tief ein. Für einen Auszug aus dem Roman wurde Silke Stamm 2020 mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet.

Thömu und der braungebrannte Jean-Pierre, die beide schon über fünfzig sind, Luke, der immer eine rote Mütze trägt und der schwermütige Fippu, der Bergführer Aaron und die namenlose Icherzählerin und einzige Frau im Bunde, treffen sich an einem kleinen Bahnhof in den Schweizer Alpen. Es ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen, in dem keiner sich bisher kannte. Erfahrene Skitourengänger sind sie allesamt, die Gefahren und Risiken der hochalpinen Bergwelt kennen sie so gut wie ihre Schönheit. Dennoch zeigt sich bald, dass es hier auch darauf ankommt, wie die Gruppe zusammenfindet, also dass man sich aufeinander verlassen können muss, dass der Ich-Bezogenheit und Selbstinszenierung hier Grenzen gesetzt sind.

Poetisch übersetzt hat Silke Stamm das, indem sie zwar aus der Perspektive eines erlebenden Ichs erzählt, aber ausschließlich in Infinitivsätzen: »Weiterzugehen und auf nichts als das Stück Spur direkt vor sich zu schauen; die nächste Kuppe, hinter der die Spur verschwindet und es möglicherweise flacher wird, nur ab und zu in den Blick zu nehmen, weil der Weg bis dorthin noch zu weit ist; vor jedem Schritt zu überprüfen, ob der eine Ski greift und es möglich ist, den anderen anzuheben, und sich darauf zu konzentrieren, dass es genau dieser Schritt ist, der jetzt zählt, und danach der nächste.«

Diese Nebensatz-Reihungen impfen dem Text eine poetisch berichtende Distanz ein, obwohl er sich ausschließlich aus subjektiven Erlebnissen speist und laden ihn zudem mit einer Erwartung auf, setzen ihn sozusagen unter Strom. Das hat den Effekt, dass man schon vom ersten Satz an eine schicksalhafte Wendung erwartet, die sich, nach vielen kleinen Ereignissen und einem Lawinenabgang, in einer Art Katharsis der Erzählerin am Ende auch vollzieht – oder doch noch bevorsteht?

Dramaturgisch glänzend durchgetaktet ist dieses alpine Abenteuer allemal. Und die Frage, ob der individuelle Erlebnishunger, von dem es getragen wird, nur narzisstische Selbstüberhöhung ist oder doch schweißtreibende Selbstvergewisserung in einer immer komplexeren Welt, müssen wir alle für uns selbst beantworten. »Zersch es Bitzli abefahre«, gibt der Bergführer Aaron seiner Gruppe am zweiten Tag sehr wortkarg in Bärndütsch mit auf den Weg. Dass es nach einem »bisschen Abfahrt« dann sehr viel länger bergauf geht, ist ja sowieso klar.

Silke Stamm, »Hohe Berge«, Piper, € 22,–


06.09.2022 | Jürgen Abel