Svenja Flaßpöhler »Sensibel«

Empfindlichkeit, Zumutbares und andere Grenzfälle

Svenja Flaßpoehler (c) Johanna Ruebel
Svenja Flaßpöhler, Foto: Johanna Ruebel
Mit jedem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel gibt es auch Begriffe, die neu aufkommen oder ins Zentrum von Debatten rücken. Manche bezeichnen den Epochenwechsel selbst, so wie die 2020 zum »Wort des Jahres« gekürte »Corona-Pandemie«, anderes schlummert am Rande und ist dann plötzlich omnipräsent. So ist es auch bei einem Wort aus der Physik, das zum Synonym für die Abwehrkraft in der Krise wurde: Resilienz. In den Berührungspunkten von Resilienz und Empfindlichkeit sieht die Philosophin Svenja Flaßpöhler in ihrem neuen Buch »Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren« die Brücke zur Überwindung der Konflikte, die gegenwärtig die Gesellschaft spalten.

Der Ausgangspunkt von Svenja Flaßpöhlers neuem Buch ist ein Konflikt, der sich seit Jahren verschärft und die Gesellschaften der westlichen Welt immer weiter zu spalten droht. Mit den Begriffen Resilienz und Empfindlichkeit lässt sich der Kern der Polarisierung anreißen. Sie bilden die Klammer, die bei Flaßpöhler den »Riss in der Gesellschaft« einfasst, ob es dabei um Gendersprache, um Rassismus, sexuelle Belästigung oder die Benachteiligung von Minderheiten geht. Ist eine immer größere Sensibilität für strukturelle Missstände der Gesellschaft unzumutbar oder – im Gegenteil – deren Diffamierung als individuelle Empfindlichkeit? Das ist die Ausgangsfrage, hinter der sich dann aufreiht, was uns alle mehr oder weniger umtreibt: Wo liegen die Grenzen des Sagbaren – und wer legt sie fest? Ab wann ist eine Berührung eine Belästigung? Wie hängen Identitätspolitik und gesellschaftliche Polarisierung zusammen?

Für Svenja Flaßpöhler ist Sensibilität eine zentrale »zivilisatorische Errungenschaft«, die allerdings auch einem Paradox unterworfen ist, das der Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville schon im 19. Jahrhundert beschrieb: »Je gleichberechtigter Gesellschaften sind, desto sensibilisierter werden sie für noch bestehende Ungerechtigkeiten und damit verbundene Verletzungen.« Die Polarisierung zwischen einer verabsolutierten Sensibilität und einer ignoranten und reaktionären Polemik ist demnach so etwas wie der zwangsläufige Sand im Getriebe weltoffener, liberaler Gesellschaften.

Ob Strukturen ungerecht sind oder vielleicht doch nur das Individuum an sich arbeiten muss, weil es gesellschaftliche Chancen nicht nutzt, wird folglich, so beschwerlich und konfliktbeladen es sein mag, auch weiter von Fall zu Fall neu auszuhandeln sein. Svenja Flaßpöhler stellt die aktuellen Streitfragen aus einer philosophischen und historischen Perspektive dar und in ihrer brillanten Gegenwartsanalyse auch das Instrumentarium und das Vokabular für eine breite Debatte zur Verfügung. In Resilienz sieht sie keinen Panzer gegen die Zumutungen der Gegenwart, sondern eine notwendige »Schwester der Sensibilität«. Wie die gemeinsame Zukunft dieser Geschwister aussehen könnte, ist jedoch völlig offen, und ein Blick in die Geschichte macht wenig Hoffnung darauf, dass es ein freundliches Miteinander werden könnte.

Svenja Flaßpöhler, »Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren«, Klett-Cotta, € 20,–


18.10.2021 | Jürgen Abel
Svenja Flaßpöhler, Sensibel - Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren