Der neue Roman »Vaters Stimme« von Tanja Schwarz
Ein Basso continuo für das schwankende Selbst
Man kann diesen Roman als Plädoyer gegen patriarchale Gewalt lesen, vor allem zeichnet »Vaters Stimme« (hanserblau) von Tanja Schwarz aber das präzise und in einer oft hochpoetischen Sprache ausgestaltete Sittenbild einer westdeutschen Mittelstandsfamilie von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Die Brüche und Verwerfungen, die ihm eingeschrieben sind, finden sich, mal mehr und mal weniger dramatisch, in vielen Familien und mit ihnen stellt sich immer auch die universelle Frage danach, wie wir zusammenleben wollen, selbstbestimmt und emanzipiert oder überformt von autoritären Strukturen.
In der Hamburger Hafencity ist Lenny wieder einmal zu Besuch bei seiner Mutter. Für die erfolgreiche Projektleiterin fügt sich die »Kranlandschaft vor dem Fenster« ihrer Wohnung, die »vorbeiziehenden Schiffe« und der Spielplatz mit den Riesenschaukeln in der Nähe zum unter den gegebenen Umständen freundlichsten Bild ihres Lebens. Überschattet wird es von dem Umstand, dass ihrem 10-jährigen Sohn dort seine Freunde fehlen, und von all dem, was gemeinsamen Wochenenden oft sonst noch entgegensteht: Geburtstagseinladungen, entzündete Mandeln, die Geschäftsreisen der Mutter. Die Wahrheit ist, dass die beiden sich nicht ganz so oft sehen. Das Familienpatchwork ist dennoch halbwegs gelungen und gut eingerichtet. Der Sohn lebt mit seiner Halbschwester und seinem Vater, und er ist dort gut aufgehoben. Hätte sie selbst einen Vater mit so einer Stimme gehabt, sagt sich die Erzählerin, wäre sie vielleicht »eine andere geworden«.
Dieser Basso continuo, dieser »Generalbass« als Fundament einer Lebensmelodie, mit dem ihr Ex-Mann seine Kinder begleitet, rauscht ihr dann plötzlich doch noch ins Leben, denn eines Tages beschließt Lenny, seinen Großvater kennenzulernen, der seiner Tochter bisher fast jeden Kontakt und vor allem jedes Interesse verweigerte. In acht Stationen entfaltet Tanja Schwarz daraufhin eine Familiengeschichte, die stets in patriarchaler Logik von den Wünschen des Vaters bestimmt wird, sogar dann noch, wenn er abwesend bleibt. Doch zuerst ist da nur ein hoch betagter und mild gestimmter Rentner von der Schwäbischen Alb, der seine Tochter ebenso mit seiner plötzlichen Anwesenheit und Zugewandtheit überrumpelt wie den Enkelsohn. Zuerst scheint sich durch die Initiative von Lenny in der Familie plötzlich alles zum Besseren zu wenden, bis die Tochter und der Enkel dann erfahren, dass es da noch ein anderes Enkelkind gibt. Es ist die Tochter eines Halbbruder, der auf tragische Weise ums Leben kam. Sie hat einen ganz anderen Großvater erlebt als jetzt Lenny.
Das Erbe des Vaters führt seine Tochter schließlich an die ukrainische Grenze und damit an einen Kriegsschauplatz, an dem sich, wie in diesem Roman, zwei Lebensmodelle gegenüberstehen. »Die Zukunft«, heißt es am Ende von »Vaters Stimme« (hanserblau), steht dort »Spitz auf Knopf«. Und die Tochter schickt eine kleine, symbolische Botschaft gegen den chauvinistischen Autoritarismus in den Kampf, der sich als Role Model nicht nur hier gegen den liberalen Wertekanon des Westens formiert. Es sind Familien, in denen Werte wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Freiheit zuerst in Frage gestellt werden, das ist die Botschaft, die Tanja Schwarz den Leser:innen ihres Romans mit auf den Weg gibt.
Tanja Schwarz, »Vaters Stimme« (hanserblau), € 24,–
28.08.2023 | Jürgen Abel