Uwe Timms Lebensbuch »Alle meine Geister«

Die Kunst des Auslassens

Uwe Timm, Foto: Lena Ternovaja
Ganz erstaunlich an dem neuen Buch von Uwe Timm ist seine große Leichtigkeit. Obwohl schon der Titel »Alle meine Geister« (Kiepenheuer und Witsch) ankündigt, dass da vieles erinnernd beschworen wird, gelingt es diesem Grandseigneur der deutschen Gegenwartsliteratur virtuos, seine Themen in einem fein gesponnenen Netz aus atmosphärisch verdichteten Erinnerungssplittern für ein großes Lebensbuch einzufangen. Es spielt in den fünfziger Jahren in Hamburg, und es geht um Pelze, um Literatur und den Jazz.

Seine »großen Romane wie ›Kopfjäger‹, ›Rot‹ und ›Ikarien‹«, hieß es in der Begründung zur Verleihung des Hamburger Lessing-Preises vor zwei Jahren, »fügen sich zu einer einzigartigen Chronik der Moderne zusammen«. Besonders populär ist der in München und Berlin lebende Uwe Timm in Hamburg aber seit vielen Jahren durch seine in der Hansestadt spielende Novelle »Die Entdeckung der Currywurst« (1993). In ihr berichtet der Erzähler auch, dass sein Vater in einem Trümmerhaus eine Pelznähmaschine gefunden und sich damit, ohne darin ausgebildet worden sein, ein Auskommen als Kürschner geschaffen habe. Zum Auftakt von »Alle meine Geister« erzählt Uwe Timm nun, wie er 1955 kurz vor seinem 15. Geburtstag eine Lehre in dem hochangesehenen »Pelz- und Modehaus Levermann« in der Bergstraße an der Binnenalster antreten muss. Er soll einmal das Pelzgeschäft seines Vaters übernehmen, der das Handwerk selbst gar nicht gelernt hatte.

Die aus Tierfellen gefertigten Pelzmäntel sind damals noch ein modisches Statussymbol, und der Beruf des Kürschners gehört zu den angesehensten Berufen. Uwe Timm erlernt die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, er schult den Blick für das Material in vielen Stunden, in denen er Felle sortiert, er übt die strategische Planung der Arbeitsschritte und studiert die Kunst des »Auslassens«, die es ermöglicht, »Felle, Fell-Flächen oder Fellteile durch geeignete Schnitte auf Kosten der Breite in bestimmter Weise zu verlängern«. Begleitet wird die »hoch verfeinerte Arbeit mit Pelzen«, denen durch das »Weiche, das Tierhafte, eine Ahnung von Wildnis, von einer reflexionsfernen Vorzeit« innewohnt, mit ersten Liebschaften und mit literarischen Erweckungserlebnissen, denn schon der Lehrling hat einen großen Traum. Er liest Brehms Tierleben, Humboldt, Salinger und Henry Miller. Albert Camus‘ Roman »Der Fremde« wird ihm zu einer »Offenbarung«, weil er ihm eine »ganz andere, nüchtern kritische Sicht auf sich selbst und die Welt« zeigt.

Neben den großen literarischen Geistern, die Uwe Timm in seinem Buch aufruft, ist da die Erinnerung an Kollegen, Freunde und Weggefährten. Mit dem »roten Erik« und vor allem mit seinem Kollegen Johnny-Look zieht er durch die Jazzclubs der Stadt und findet einen Sound, der ihm schließlich den Rhythmus für das vorgibt, was er in seinem Leben machen will: »schreiben, Gedichte, Romane, Dramen«. Mit dem Jazz ist der so hoffnungsvolle wie zuversichtliche Aufbruch verbunden, von dem »Alle meine Geister« vor allem erzählt. Es ist ein Buch, das Mut macht in einer Zeit, in der durch all die Aufgeregtheiten nur zu oft aus dem Blick gerät, dass es auf gutes Handwerk ankommt – und auf die Träume, die wir haben.

Uwe Timm, »Alle meine Geister« (Kiepenheuer & Witsch), € 25,–

01.02.2024 | Jürgen Abel