Wolfram Eilebergers »Geister der Gegenwart«

Das Ideenpanorama der westlichen Nachkriegszeit

Wolfram Eilenberger, Foto: Annette Hauschild
Die Geschichte der Philosophie ist, auch wenn man nur einen Ausschnitt der letzten 100 Jahre betrachtet, reich an großen Namen und Werken, die vielstimmig untereinander und mit allem korrespondieren, was in der Welt ist. Einer, der ganz wunderbar von diesen Denkmodellen erzählt, ist Wolfram Eilenberger. Nach den mehrfach ausgezeichneten Bestsellern »Zeit der Zauberer« und »Feuer der Freiheit« ist in diesem Herbst ein »philosophischer Roman« von ihm erschienen, der vier große »Geister der Gegenwart« (Klett-Cotta) und mit ihnen das Ideenpanorama der westlichen Nachkriegszeit vorstellt.

Die berühmte Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« von Immanuel Kant aus dem Jahr 1784 ist eines der Motti, die Wolfram Eilenberger seinem Buch vorangestellt hat und gleichzeitig eine Art begleitendes Rezitativ: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Alle vier »Geister der Gegenwart«, die er vorstellt, sind auf ihre Weise »auf der Suche nach einem neuen Ausgang aus methodisch viel zu lang kultivierter Unmündigkeit« und stehen, wie es im Untertitel heißt, für den »Beginn einer neuen Aufklärung« in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Zum Auftakt begleiten wir Theodor W. Adorno im Herbst 1949 aus dem Exil zurück nach Frankfurt a. M. und erfahren aus Briefen u.a. an den von ihm verehrten Thomas Mann von seinen ersten Eindrücken in der Stadt und an der Universität. Fast zeitgleich hält der deutsche Dichterfürst in einer Notiz den Besuch der 16-jährigen Susan Sontag in seiner Villa in Los Angeles fest. Die hochbegabte Jugendliche ist gerade auf dem Sprung nach Chicago, wo sie Literatur, Theologie und Philosophie studieren wird und nur ein Jahr später heiratet. Die Wahlverwandten von Susan Sontag, die später zu einer Galionsfigur der Avantgarde aufsteigen wird, sind zu dieser Zeit Rilke und Kierkegaard, sie hofft auf eine »neue, starke Innerlichkeit«, so wie der 23-jährige Philosophiestudent Michel Foucault, der in Paris kurz vor dem Examen steht und sich das Leben nehmen will. Vom Examenskandidaten Foucault findet Wolfram Eilenberger einen Weg nach Wien und zu dem jungen Studenten Paul Feyerabend, einem Kriegsheimkehrer, der sich »auf seinen Krücken gen Rednerpult« in der Universität schwingt und eine zehnminütige »Sauda« abliefert. Es ist eine Intervention, die bei seinen Kommilitonen nicht gut ankommt, aber Karl Popper, sein Professor, ist beeindruckt von dem Auftritt des Studenten, der später vor allem mit seinen Arbeiten zur Wissenschaftsphilosophie und mit seinem Werk »Wider den Methodenzwang« berühmt werden wird.

Zusammengesetzt ist die Geschichte dieser vier Selbstdenker in einer meisterhaften Collage aus kurzen Stücken mit vielen und zum Teil auch langen Zitaten und erzählerischen Passagen, die in vier Kapiteln von 1948 bis 1984 reichen. Abschließend lädt Wolfram Eilenberger »Zum Ausgang« und beschwört mit ihm das »Zeugnis einer Befreiung« von »den derzeit vorherrschenden Formen akademischen Philosophierens«. Gegen die ist man mit seinem Buch bestens gewappnet, es ist eine höchst unterhaltende Einladung zum Weiterlesen und mit seinen »Geistern« auch zur Suche nach eigenen Denkwegen.

Wolfram Eilenberger, »Geister der Gegenwart«, Klett-Cotta, € 28,–

01.10.2024 | Jürgen Abel