Yasmina Rezas Roman »Serge«

Vom Kuddelmuddel einer Familie

Yasmina Reza
Yasmina Reza, Foto: Pascal Victor
Yasmina Reza ist die meistgespielte Bühnenautorin der Gegenwart, weltberühmt, ein internationaler Star der Szene, vielfach ausgezeichnet und auch mit ihren Romanen seit Jahren höchst erfolgreich. Und die 1957 in Paris als Tochter einer ungarischen Geigerin und eines iranischen Ingenieurs geborene Schriftstellerin ist eine Expertin für abgründige Komik, ihr gesamtes Werk kann als »Komödie über die Condition Humaine« (»Le Monde«) gelesen werden. In ihrem neuen Roman »Serge« (Hanser Verlag) begibt sie sich mitten hinein in die »Kuddelmuddelkiste« einer Familie in Paris.

Für viele Jahre wird die Familie von »Maman« zusammengehalten, einer ungarischen Jüdin, die nach dem frühen Tod ihres Mannes ins Zentrum der Familienbande rückt. Bei ihr trifft man sich zum Dreikönigskuchen und versammelt sich zum Auftakt des Romans nun zu ihrer Beerdigung. Da ist Jean, der Erzähler des Romans und Vermittler unter den Geschwistern, Anna, das »Hätschelkind« der Familie, und Serge, ein »König der Unternehmungen«, der gerade vor einem Scherbenhaufen seines Lebens steht, nachdem ihn eine seiner (zahlreichen) Freundinnen vor die Tür gesetzt hat. Nachdem Marta Popper ins Nichts verschwunden ist, sitzt der familiäre Haufen in einem Café zusammen, die Kinder allesamt über 50, die Enkelkinder über 20, und die Dinge laufen in fast gewohntem Gezänk aus dem Ruder.

Die Shoah und die ungarischen Vorfahren der Familie haben zu Lebzeiten von »Maman« > keine große Rolle in den Familiengesprächen geführt, jetzt ist Joséphine, die Tochter von Serge plötzlich auf der Suche nach ihrer Herkunft und Identität. Serge fällt dazu vor allem ein, dass er der Visagisitin »mit Ananas-Frisur« gerade »für ein Wahnsinnsgeld eine Augenbrauen-Fortbildung bezahlt hat, da könnt ihr mal sehen, und jetzt will sie nach Auschwitz, was hat das Mädchen bloß.« Doch Joséphine setzt sich durch und die Familie reist gemeinsam nach Polen. Dort prallen die Temperamente – »gestern Augenbrauenakademie heute Judenvernichtung« – dann nach und nach so heftig in einem Kanon aus neuen Verletzungen und alten binnenfamiliären Problemen aufeinander, dass die Familie daran zu zerbrechen droht.

In der deutschen Literaturkritik wurde der Roman als »ergreifend illusionslose Tragikomödie über die Vergeblichkeit des Erinnerns« (»Die ZEIT«) gefeiert, aber auch kritisiert, dass »Auschwitz sich nicht unbedingt als Gegenstand einer literarischen Komödie eignet« (Deutschlandfunk Kultur). Das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik hat Yasmina Reza in ihrem Roman allerdings gut austariert, und man kann »Serge« schließlich auch einfach als ein sehr gegenwärtiges Familiendrama lesen, das die großen Lebensfragen um Alter, Krankheit und Tod so berührend wie humorvoll ausbuchstabiert.

Yasmina Reza, »Serge«, Hanser, € 22,–


29.04.2022 | Jürgen Abel