Zoë Becks neuer Kriminalroman

Die schöne neue Welt von »Paradise City«

Zoë Beck
Zoë Beck, Foto: Victoria Tomaschko
Zeitgemäß, brandaktuell, hochspannend, das sind die Thriller von Zoë Beck sowieso immer. In »Schwarzblende« (2015) fiktionalisiert sie das Attentat auf einen britischen Soldaten 2013 in London für einen Blick in die Abgründe einer Gesellschaft, die zwischen Sensationsgier und Ohnmacht aufgerieben wird. »Die Lieferantin« (2017) spielt in der nahen Zukunft im Drogenmilieu Londons und entwirft das Bild einer Gesellschaft, die immer weiter auseinander driftet. Für »Paradise City« (Suhrkamp Verlag) hat sie nun die bisher schönste ihrer dystopischen Welten aus den vergangenen Jahren erfunden und zielt damit direkt ins Zentrum der Krise, die uns gegenwärtig alle umtreibt.

Inwieweit darf der Staat Freiheitsrechte beschränken, wenn die Gesundheit bedroht ist? Wer entscheidet nach welchen Regeln über eine Behandlung, wenn Menschen mit schweren Vorerkrankungen sie brauchen? Auf welchen moralphilosophischen Grundlagen basieren die Strategien, mit denen die Politik auf eine Gesundheitskrise der Gesellschaft reagiert? Das sind einige der Fragen, zu denen sich in den vergangenen Monaten Experten unterschiedlichster Provenienz geäußert haben, Gerichtsurteile ergangen sind und manchmal auch, den Abstand wahrend, auf der Straße diskutiert wurde. Eine so spannende wie aktuelle literarische Inszenierung des Fragenkanons, der sich um die Corona-Krise rankt, ist Zoë Becks neuer Kriminalroman »Paradise City«.

In dem Thriller wacht ein energisch zugewandtes Gesundheitsprogramm über die Menschen. Es vergibt Prämien für vorbildliches Verhalten, erinnert, ermahnt, verordnet und leitet Behandlungen in die Wege, wenn es notwendig ist. Dank der neuen Algorithmen und großen Fortschritten in der Forschung sind Pandemien, Antibiotikaresistenzen und Krebserkrankungen aus der Liste der Menschheitsgeiseln verschwunden. In den Jahren davor ist Europas Bevölkerung um fast vierzig Prozent gesunken. Jetzt geht es allen bestens, solange sie ihr Leben in der schönen neuen Welt nicht in Frage stellen, für die das ein oder andere Freiheitsrecht in »Paradise City« eingeschränkt werden musste.

Die riesige Metropole im Rhein-Main-Gebiet verfügt über eine perfekte Infrastruktur, Berlin ist nur noch touristische Kulisse, ländliche Regionen sind kaum noch besiedelt und verwandeln sich nach und nach in eine neue Wildnis. Liina, die Hauptfigur des Romans, arbeitet für die letzte nicht-staatliche Nachrichtenagentur des Landes und wird in die entvölkerte Uckermark geschickt, um zu recherchieren, ob dort tatsächlich eine Frau durch Bisse von einem Schakal ums Leben gekommen ist. Währenddessen erleidet der Agenturgründer Özlem Gerlach einen Unfall, der eigentlich gar nicht passieren kann. Liina weiß nur, dass er über das Gesundheitssystem KOS recherchierte, das durch einen implantierten Chip Zugriff auf alle Menschen im Land hat. Anfangs vermutet sie, es ginge um einen Handel mit Gesundheitsdaten in ganz großem Stil, doch bald zeigt sich die schaurige Wahrheit: Gerlach ist einer Macht in die Quere gekommen, die zu groß für ihn war. Am Ende bleibt auch Liina nur die Flucht.

Zoë Becks »Paradise City« ist einen hellsichtige literarische Vision einer Gesundheitsdiktatur, die man auch als Warnung vor Entmündigungsstaat lesen kann, der seine Bürger*innen durch Apps kontrolliert, etabliert mit dem Argument der allumfassender Fürsorge und angeheizt durch die Angst vor Krankheit und Tod. Allen, die mit neidischem Blick auf asiatische Länder verweisen, wo solche Apps schon heute ohne jeden Datenschutz im Einsatz sind, kann man »Paradise City« nun als spannendes literarisches Lehrstück zur Lektüre empfehlen.

Zoë Beck, »Paradise City«, Suhrkamp, € 16,–



24.06.2020 | Jürgen Abel