Leona Stahlmanns Romandebüt »Der Defekt«

Das Spiel mit dem Schmerz

Leona Stahlmann
Leona Stahlmann, Foto: Simone Hawlisch
Ein Dorf im Schwarzwald, eingerahmt von Bergketten, Wald und Wiesen, im Talkessel die Häuser im Ortskern mit niedriger Tenne, ein Neubaugebiet, bisschen Tourismus, ein Wirtshaus, in dem Käsespätzle und Maultaschen serviert werden. Das ist die auf den ersten Blick beschauliche Idylle, in der Robert, Malene, Fabian, Miro, Mina, Vetko und Niklas aufgewachsen sind. In dem Jahr, bevor sie das Dorf verlassen und in die Städte gehen, geschieht nicht viel mehr als das Alltägliche und Vorhersehbare. Sie sind plötzlich erwachsen geworden und lernen die Liebe kennen, den Schmerz, auch Verzweiflung, Tod und ein Anderssein, für das es in ihrer Welt noch nicht einmal eine Sprache gibt. Leona Stahlmann hat sie für ihr so glänzend erzähltes wie hellsichtiges Debüt »Der Defekt« (Verlag Kein & Aber) gefunden.

Es gibt gleich mehrere Schubladen, in die sich dieses Romandebüt einordnen und damit eben auch wegsortieren lässt: Coming of Age, Heimat- und Liebesroman. Das trifft es alles irgendwie, denn die Hamburger Autorin Leona Stahlmann, die 2017 mit einem Förderpreis für Literatur in Hamburg ausgezeichnet wurde, erzählt von »den Rissen in unseren Begriffen von Heimat und Identität«, von »Mensch und Natur« und »von der Wucht, wenn sie in ihrer Rohheit aufeinandertreffen« (Verlagsankündigung), sie erzählt vom Erwachsenwerden und eine Liebesgeschichte. All das ist richtig. Viel entscheidender ist jedoch, was die Regie bei all dem führt, es ist der Schmerz, ein »sehr ordentliches Gefühl«, wie es in dem Roman heißt: »Es glättete Minas krumme Synapsen, die wild in ihr herumlagen wie verhedderte Kabel, es legte sie nebeneinander und zog sie gerade. Schmerz räumte in Mina auf, Schmerz richtete sie aus und bestimmte ihre Kartografie neu: Wo sie sich befand mit ihrem Kopf und in ihrem Körper, zeichnete der Schmerz hilfsbereit für sie ein, mit farbig leuchtenden Orientierungspunkten.« Der Einzelgänger Vetko beschert Mina diese »leuchtenden Minuten«, zuerst noch zögernd und unschuldig, doch bald testen sie gemeinsam die Grenzen ihres Spiels aus. Die Streifen, die auf Minas »Oberschenkeln glühten, wo vorher unversehrte Haut gewesen war«, sind dabei noch harmlos, sie muss sie nur vor neugierigen Blicken verstecken. Eine gefährliche Grenze überschreiten sie, als Vetko sie eines Nachts beim Schwimmen in einem See unter Wasser drückt. Während Vetkos Forderungen immer existenzieller werden, weiß Mina bald nicht mehr, wie weit sie noch gehen soll, wem sie sich anvertrauen kann, was richtig ist und falsch. Als Kind, erinnert sie sich, hat sie »immer auf Wunden gezeigt und sie Wunder genannt«. Aus dem Versprecher wird am Ende ein Versprechen, das ihr den Weg weist: »Solang sie verwundbar ist, wird um jede Wunde herum noch immer Ort und Wald und Herzschlag eines anderen sein und sie ein Teil davon.«

Leona Stahlmann, »Der Defekt«, Kein & Aber, € 22,–

02.03.2020 | Jürgen Abel