Mittwoch 01.03.2017


Lesung mit Fatma Aydemir

„Dieser Tritt, das bin ich“

Fatma Aydemir
Fatma Aydemir, Foto: Bradley Secker
Geschichten wie diese erfährt man sonst aus Sozialreportagen über das Leben von Menschen mit Migrationshintergrund und manchmal werden sie auch zur Nachricht, die landauf und landab in den Medien kursiert. In Schnipseln aus Polizeiberichten, O-Tönen von Betroffenen und Allgemeinplätzen setzt sich dann ein Geschehen zusammen, das so verknappt nicht fassbar wird. Die in Berlin lebende taz-Redakteurin Fatma Aydemir erzählt in ihrem Romandebüt „Ellbogen“ eine dieser Geschichten. Sie erzählt von Hazal, die im Berliner Wedding geboren wurde, aufgewachsen ist und eigentlich auch nichts anderes kennt als ihren Kiez, bis sie ihre Wut nicht mehr im Griff hat. Fatma Aydemir liest im Literaturhaus aus ihrem vielgelobten Debütroman. Moderation: Marie Schmidt.

Es beginnt ganz harmlos und mit einem geklauten Lippenstift, den ein kleines Mädchen in einem Supermarkt mitnimmt, ohne so genau zu wissen, warum und wozu. Als die Mutter der kleinen Hazal davon erfährt, flippt sie völlig aus und schlägt sie. Man fragt sich an dieser Stelle des Romans natürlich, ob es so weiter geht mit dieser typischen Migrationsgeschichte: Hazals Vater ist Taxifahrer, der seine Freizeit mit Freunden im Café verbringt, die Eltern führen eine lieblose Beziehung, der Bruder ist ein Kleinkrimineller, der zu Hause alle Freiheiten genießt, während von Hazal erwartet wird, dass sie sich klein macht. Kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag wird sie dann wieder beim Klauen erwischt, doch das ist nur das böse Vorzeichen eines Gewaltausbruchs in ihrer Geburtstagsnacht. Gemeinsam mit ihren Freundinnen begeht sie in der U-Bahn ein Verbrechen, für das es keine Entschuldigung gibt. „Dieser Tritt, das bin ich“, sagt sie, und spart sich jeden Versuch einer Erklärung, schließlich war sie nicht nur in der Nacht wütend, sie war es schon vorher die ganze Zeit über. Hazal flieht daraufhin nach Istanbul, das sie bisher nur aus dem Fernsehen kennt und gerät dort in ein zum Zerreißen gespanntes Klima, in dem ihre Suche nach Halt und nach Heimat ebenso scheitert wie im Wedding.
Fatma Aydemir stellt mit „Ellbogen“ die große Frage: „Was kann aus einem Mädchen wie Hazal in dieser Welt werden?“ Und sie gibt in einer knappen, dialogstarken Sprache eine Antwort, die eine Ohrfeige für die liberale Mehrheitsgesellschaft, für diese satte Verlogenheit der so toleranten und wohlsortierten Deutschen ist, und eine Ohrfeige für die patriarchale und frauenfeindliche türkische Gesellschaft.

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, 10.-/6.- Euro.





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