Mittwoch 15.05.2024


Lesung mit Dana von Suffrin

Die Struktur verstehen

Dana von Suffrin
Dana von Suffrin, Foto: Tara Wolff

Mit viel schwarzem Humor erzählt Dana von Suffrin in ihrem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Debüt »Otto« von einem jüdischen Patriarchen, seiner Familie und seinen Abenteuern. Einen deutsch-jüdischen »Familienkosmos« leuchtet die Schriftstellerin und Historikerin auch in ihrem neuen Roman »Nochmal von vorne« (Kiepenheuer & Witsch) aus. In den kurzen Episoden über die schrecklich nette Familie Jeruscher findet sich all das, was gute Literatur ausmacht: Dramatik und Komik, Ironie und tiefere Bedeutung. Und immer wieder auch eine ganz gehörige Portion Spott.

In der grandiosen Eröffnungsszene dieses Romans nimmt uns Dana von Suffrin mit an einen denkwürdigen Verhandlungstisch in Wien, an dem die Außenminister von Deutschland, Italien, Ungarn und Rumänien den »Zweiten Wiener Schiedsspruch« besiegeln, der auch als »Wiener Diktat« in die Geschichte eingeht. Durch ihn wird Nordsiebenbürgen von Rumänien abgespalten und Ungarn zugeschlagen. Für die weitverzweigte jüdische Familie Jeruscher, die dort zu Hause ist, erweist sich die neue Grenze als »eine Falle, ein Abgrund, eine Grube«. Nur der junge Tibor und seine Frau Zsazsa überleben und gelangen nach Israel. Ihre Enkeltochter Rosa erzählt uns davon und fragt sich viele Jahrzehnte später, »wer uns alle durch die Geschichte schmettert und uns an den blödesten Orten aufkommen lässt«. Eine Antwort darauf weiß die alleinstehende junge Geisteswissenschaftlerin mit einem Zeitvertrag an der Uni, der bald auslaufen wird, natürlich auch nicht, aber vor allem hat sie ganz andere Probleme.
Ihre Mutter Veronika ist schon seit Jahren tot, und jetzt ist auch noch ihr Vater Mordi gestorben. Während sie durch seine Wohnung streift, auf der Suche nach Bargeld für die Beerdigung und einer Telefonnummer ihrer Schwester Nadja, zu der sie wieder einmal keinen Kontakt mehr hat, ist plötzlich en détail das ganze Schlamassel der Familie Jeruscher wieder da. Vorangetrieben von einer großen Fabulierlust und vielen kleine Geschichten, ob über entsetzte Diskusfische, den fast menschlichen Familienhund Dovid, Mamas Handspiegel, alltägliche Migräneanfälle und das unweigerliche Verrinnen der Zeit, entfaltet sich ein »Familienkosmos, der aus nichts weiter als ein paar neurotischen bedürftigen Individuen« besteht. Für Rosas rebellische Schwester ist er »schon immer die größte Zumutung gewesen« und gleichzeitig sowieso egal, während sie selbst zwar eher unbeteiligt bleibt, aber doch beobachtet und sich sehr gut merkt, was da alles passiert.
Da ist der Chemiker Mordi Jeruscher, der nach seinem Einsatz im Jom-Kippur-Krieg 1973, über den er nie spricht, nach München kommt, um dort seinen Doktor zu machen. Noch bevor es dazu kommt, stolpert er nicht nur sprichwörtlich über die junge Studentin Veronika und gründet mit ihr eine Familie, die von außen betrachtet »wie die Parodie einer bundesdeutschen Kernfamilie« erscheint. Eine »Parodie«, so erklärt es die Mutter den Töchtern mit ihrer »Geisteswissenschaftlerinnenstimme« immer wieder, weil man sofort erkennen würde, »dass hier nichts in Ordnung sei«. Und tatsächlich sind die Eltern in einem Dauerstreit gefangen, in dem die Rollenverteilung immer gleich ist. Der Vater sorgt sich um den Zustand der Welt und ganz besonders um seine Töchter, während die Mutter erklärt, dass »das einzig Interessante die Struktur sei, denn wir Menschen seien keine Inseln, sondern in ein vielfältiges Netz aus Abhängigkeiten und Beziehungen verstrickt«.
Zu denen gehört bei den Jeruschers auch die Großmutter Zsazsa, die in einem Altenheim in Israel lebt. »Noch einmal von Anfang« will sie sich bei einem Besuch ihrer Enkeltöchter erinnern, weil die schließlich gar »keine Ahnung hätten, wo sie überhaupt herkämen«. Doch dann kann sie den Mädchen kaum etwas erzählen und setzt nur immer wieder von vorn an, ohne dass sie etwas davon wiederzufinden, was da einmal war. Die Kriegstraumata, der Holocaust, all die schweren Themen bleiben ebenso unausgesprochen wie all die leichten Erinnerungen an »Geschwister, Mietshäuser, Autos, Gärten, Schulgebäude«. Das ist tief traurig und tröstend zugleich, weil sich das Vergessen eben nicht aufhalten lässt.
Die Botschaft dieses höchst virtuosen Romans ist, dass unser vielleicht wirksamstes Mittel gegen das Verschwinden das Erzählen ist. In der gemeinsamen Geschichte finden am Ende auch die beiden Schwestern wieder zueinander, weil es da etwas gibt, das nur sie aneinander verstehen und weitergeben können.

Buchhandlung & Antiquariat Lüders, Heußweg 33, 19.00 Uhr, € 14,–


»Gebundenes Leben: Krieg und Frieden«

»Grenzen überwinden«

Die Autorin Lene Albrecht und der Historiker Jörn Leonhard treffen sich für die vierte Folge der Reihe »Gebundenes Leben: Krieg und Frieden« zum Gespräch über Grenzen der Vergangenheit und in unseren Köpfen, die bis heute fortwirken. Moderation: Ulrich Kühn.

Literaturhaus und Körber-Stiftung im Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–/Streaming € 6,–