Mittwoch, 23.01.2019


Lesung mit Miljenko Jergović

Das Licht zwischen uns und unseren Träumen

Miljenko Jergovic
Miljenko Jergovic, Foto: Miodrag Trajkovic
Miljenko Jergović ist 24 Jahre alt, als er in einem Transportflugzeug der US-Armee »vorübergehend« aus seiner Heimat Sarajevo nach Zagreb flieht. An eine Rückkehr ist dann so schnell nicht zu denken, jahrelang wird Sarajevo belagert, Tausende sterben. Miljenko Jergović wird schnell als Schriftsteller und Kolumnist bekannt, mit seinem Erzählband »Sarajevski Marlboro« (1994) ist er international erfolgreich, 1995 erhält er den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück. Bis heute lebt er in Zagreb und gilt als scharfer Kritiker der postjugoslawischen Kleinstaaterei. Nach Sarajevo ist er erst viele Jahre später zurückgekehrt, für einen langen Abschied von seiner sterbenden Mutter und seinen Roman »Die ungeheure Geschichte meiner Familie«, in dem die Stadt eine Hauptrolle spielt.

Jede Straße führt ihn in dieser Stadt in die Vergangenheit seiner traumatisierten Heimat und setzt einen Erinnerungsprozess in Gang, in dem er sich mit ihrem Erbe und der Geschichte seiner Familie auseinandersetzt, der Geschichte der Stublers. Als Kinder des einstigen Habsburgerreichs, waren sie als Eisenbahner auf dem Balkan Zugereiste, und jeder Krieg stellte ihre Identitäten und Loyalitäten neu auf die Probe, gedient und gestorben wird in der Royal Air Force, in der Armee von Tito und von Hitler, ähnlich variantenreich sind die Sprachen und nationalen Zugehörigkeiten in der Familie.
Miljenko Jergović ist aus dieser Familiengeschichte das Gefühl der Fremdheit geblieben. Die stets mitschwingende Frage nach der Identität wird für seinen Roman zum Motor der Geschichte, die Fakten und Fiktion vermischend zeigt, was es bedeutet, in einem Vielvölkerstaat zu leben, vor allem, wenn man nicht der Mehrheit angehört. Von der Literaturkritik wurde Miljenko Jergović für seinen Roman als »ein europäischer Schriftsteller von Weltrang« (»Literaturen«) gefeiert, Saša Stanišić brachte es so auf den Punkt: »Das ist ein großes Buch, und so viele große Bücher liest man nicht, aber wenn man eines erwischt, dann weiß man das sofort« (»Die ZEIT«).

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–


Lesung mit Robert Seethaler

Feldblumen und zweiundzwanzig Aktenordner




Sein Roman »Ein ganzes Leben« (2014) war ein Weltbestseller, und auch mit seinem neuen Roman »Das Feld« steht Robert Seethaler schon seit Wochen ganz oben in den deutschen Charts. Dabei ist dieses Buch keine leichte Lektüre. Die Zusammenhänge erschließen sich nur nach und nach, es gibt keinen richtigen Plot und das Thema lässt auch dann noch vieles offen, wenn man es auf die Frage herunterbricht: Was bleibt? Dennoch ist »Das Feld« ein tief berührender Roman, das liegt vor allem an der Sprache, die in ihrer Kargheit einen ganz eigenen Sog entwickelt. Robert Seethaler liest in der Christianskirche in Ottensen aus seinem Roman

Vielleicht ist es nur der Wind, der ihre säuselnden Stimmen zu der Parkbank trägt, auf der ein alter Mann sitzt und über die Grabsteine vor ihm blickt, vielleicht bildet er es sich nur ein, vielleicht malt er es sich aus, dass hier die Toten zu ihm sprechen. 29 Tote sind es am Ende, darunter Hanna Heim, Sonja Mayer, Gerd Ingerland und Stephanie Stanek, und sie alle haben in Paulstädt gelebt, einer typischen deutschen Kleinstadt. »Was habt ihr gefühlt, Paulstädter, als ihr mich in dieses Loch hinabließt«, ruft der ehemalige Bürgermeister aus dem Grab heraus, und gerät dann, wie alle anderen Paulstädter, für seine Totenrede in jenes Leben hinein, das einmal seines war: »Ich erinnere mich an die vielen Hände, die ich gedrückt, und an die wenigen, die mich gehalten haben.« Man kann ein Leben kurz fassen, wie das von Franz Straubein, Versicherungsexperte, drei Autos, ein Bild mit Feldblumen, 22 Aktenordner und ein Eintrag im Stadtregister. Und es gibt einen sehr knappen Zwischenruf von Sophie Breyer, von dem man nicht weiß, an wen er sich richtet: »Idioten«. Heribert Kraus, der Briefträger, erzählt schließlich von seiner morgendlichen Tour, die jetzt seinen ganzen Lebensweg ausleuchtet und als Essenz in der Erkenntnis gipfelt, dass keines der Gesichter bleibt: »Nicht einmal das eigene. Gerade das eigene nicht«. Die Erinnerung an eine große Katastrophe hat sich dagegen unauslöschlich bei mehreren Paulstädtern eingegraben: Es ist die brennende Kirche, in der Pfarrer Hoberg, wie er selbst erzählt, endlich seinen Frieden findet. Robert Seethaler knüpft ganz beiläufig Verbindungen, stellt Bezüge zwischen den Toten her, sogar die Topographie des fiktiven Paulstädt wird nachvollziehbar, das große Finale bleibt jedoch aus. Am Ende dieses Totenreigens münden die kleinen Katastrophen und die großen Wunder alle in der nüchternen Einsicht: »Es gibt Ahnungen. Und es gibt Erinnerungen. Beide können täuschen.«

Buchhandlung Christiansen in der Christianskirche, Ottenser Marktplatz 6, 20.00 Uhr.


Literatur in Hamburg