Mittwoch, 01.03.2023
Lesung und Musik
Erlesenes Eimsbüttel
Zur Vernissage einer Ausstellung mit Bildern von Tilman Roller liest Katharina Schütz neue Literatur aus der Ukraine, musikalisch begleitet auf dem Klavier von Sofia Oganesian, die Stücke des ukrainischen Komponisten Borys Lyatoshynsky spielen wird.KaffeehausPape 2, Hoheluftchaussee 51, 18.30 Uhr (Vernissage), 19.30 Uhr (Lesung und Konzert), Eintritt frei
Buchpremiere mit Magdalena Saiger
Und dann steht da ein Hirsch
Magdalena Saiger, Foto: Andreas Hornoff
Im »Kunstschönen« sah der Philosoph Friedrich Hegel einst die höchste »Entfaltung der Wahrheit«, in der »das sinnliche Scheinen der Idee« erfahren werden könne. Doch was wird aus einem so hehren Ideal in einer Welt, in der alle Lebensbereiche materiell durchleuchtet und von Kapitalinteressen fremdbestimmt sind? Das ist die Ausgangsfrage von Magdalena Saigers Debütroman, und ihr Protagonist, der selbst als »Souffleur« und »Geburtshelfer« großer Kunstereignisse tätig war, also genau weiß, wie sehr der Markt ein Kunstwerk prägt, gibt darauf eine radikale Antwort. Am Anfang steht jedoch eine Erfahrung, die man, wieder mit einem Begriff Hegels, als »das Naturschöne« bezeichnen kann. Es ereilt den Erzähler an einer Endhaltestelle, in einer tristen Gegend, »schottergrau«, und dann steht da plötzlich ein Hirsch in all seiner königlichen Stattlichkeit. Die Begegnung beeindruckt ihn so sehr, dass sie zum Auslöser dafür wird, sein gut sortiertes Leben aufzugeben, um es ganz in den Dienst eines Kunstwerks zu stellen. Dessen Schönheit und Wahrhaftigkeit soll jedoch nicht durch grapschende Blicke entweiht werden, sondern ganz für sich bleiben.
In einer verlassenen Maschinenhalle am Rande eines aufgegebenen Tagebaus in der Lausitz findet er einen Ort, der ihm geeignet scheint. Nur ein »selbst ernannter Wächter«, ein »Chronist ohne Feder, ein grober autodidaktischer Prediger für die Waldvögel«, den er nach dem Bildhauer Alberto Giacometti nennt, lebt dort noch, und erzählt ihm an unzähligen Abenden vom Leben in dem Dorf, das es einst hier gab, bevor es dem Tagebau weichen musste. So vergehen Wochen und Monate, in denen zuerst nur der Plan heranreift, ein riesiges Labyrinth aus Papier zu gestalten. Dann wird das Material beschafft, auch für Recherchen muss er sein Arbeitsexil mehrmals verlassen. Doch schließlich wächst es heran, das Werk. Magdalena Saiger begleitet das Entstehen des Labyrinths durch in den Text geschobene Tafeln, die, wie in einer Ausstellung, Hintergründe und Materialien erklären, bis sich erfüllt, was am Anfang prophezeit wird: Das riesige Labyrinth bleibt ein Kunstwerk, das »nie jemand sehen wird«. Und dennoch bleibt es in der Welt, in einem wundervollen Text, der davon erzählt, bis auch er am Ende ganz unprätentiös seine eigene Auflösung »in ungezähmt zartem Violett« beschwört.
Buchhandlung Lüders, Heußweg 33, 19.00 Uhr, € 12,–
Lesung mit Raphaela Edelbauer
»Man nennt sie: Inkommensurable«
Raphaela Edelbauer, Foto: Apollonia Bitzan
Kollektive Bewusstseinszustände leuchtet Raphaela Edelbauer auch in ihren beiden bisherigen Romanen aus: In ihrem Debüt »Das flüssige Land«, »einem philosophisch-phantastischen Roman« (ORF), ist sie dem Umgang Österreichs mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auf der Spur; um Künstliche Intelligenz geht es in ihrem fulminanten Science-Fiction-Roman »Dave«, für den sie mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Und vordergründig ist auch »Die Inkommensurablen« wieder ein Genre-Roman, lustvoll und höchst unterhaltend wird zum Auftakt ein historisches Panorama aufgefächert, das, wie sich am Ende zeigt, nur die Kulisse für eine sehr gegenwärtige Parallelaktion bildet.
In dem vom Weltgeist beseelten Wien, der vielsprachigen Metropole eines Vielvölkerstaates, kommt am 30. Juli 1914 der 17-jährige Bauernknecht Hans aus Tirol an, übernächtigt, überwältigt und auf dem Weg in die nächste Kaserne, wie alle vermuten, mit denen er ins Gespräch kommt. Doch tatsächlich zieht es ihn nicht in den Krieg, sondern in die Praxis von Helene Cheresch. Er hofft, bei der Psychoanalytikerin mit dem Fachgebiet »Massenhysterien und parapsychologische Affekte«, eine Psychoanalyse machen zu können, sie soll ihn von den »Gedankenechos« befreien, die ihn immer wieder heimsuchen. Die berühmte Analytikerin empfängt ihn auch tatsächlich und vertröstet ihn dann auf den kommenden Tag. Noch in der Praxis lernt er den adligen Offizier Adam und dann Klara kennen, die beide selbst dort in Behandlung und befreundet sind. Sie nehmen sich des Neulings ohne Unterkunft und Anschluss an und bilden, wie sich bald zeigt, als Trias einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft ihrer Zeit.
Während Klara aus dem Wiener Lumpenproletariat stammt, gehört Adam zur Aristokratie und Hans steht für die bäuerliche Landbevölkerung. Doch es gibt etwas, das sie verbindet: Sie sind »Inkommensurable«, das heißt, auch wenn sie klar einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht entsprechen, gibt es für sie, wie Klara erklärt, doch »kein gemeinsames Maß« mit ihren Herkunftsfamilien. Der früh verwaiste Hans erweist sich als vielbelesener Literaturkenner, Adam, der Sprössling einer zackigen Soldatendynastie, als hochbegabter und feinsinniger Musiker, und Klara soll am nächsten Tag als eine der ersten Frauen der Universität Wien im Fach Mathematik promoviert werden. Der Vortrag zu ihrer Promotion ist als Essay über die irrationalen Zahlen in den Roman integriert, Titel: »Die Inkommensurablen«. Doch als wie resilient erweisen sich diese drei Helden und Träumer gegenüber den Anfechtungen einer Masseneuphorie, wie verhalten sie sich dazu, wie gehen sie damit um?
Für eine Nacht schickt Raphaela Edelbauer sie auf eine Reise, um genau diese Fragen zu erkunden – und lässt keinen Zweifel daran, dass ihre »Inkommensurablen« doch Kinder ihrer Zeit sind. Gleich zum Auftakt kombiniert sie die Geschichte des Skandals um Schönbergs zweites Streichquartett, das 1908 in Wien uraufgeführt wurde und eine Zeitenwende in der Musik einleitete, mit einer handfesten Schlägerei der Konfliktparteien des kommenden Weltkrieges auf der Probebühne der Wiener Musikakademie. Mittendrin sind der Soldatensohn Adam, der Bauernknecht Hans und hinzu eilt die Mathematikerin Klara. Danach geraten sie direkt von einem großbürgerlichen Abendessen in einen babylonischen Underground, mit dem dieser Roman plötzlich in der Inszenierung einer rauschhaften queeren Gegenkultur ankommt.
Spätestens hier wird deutlich, dass Raphaela Edelbauer, auch wenn der Roman die historische Kulisse nie verlässt, stets die Gegenwart im Blick hat und Massensuggestionen, die uns heute umtreiben. Dass die »virtuose Diskurs-Jongleurin« (Helmut Böttiger) an Robert Musils großen Roman »Mann ohne Eigenschaften« anschließt, wird dabei fast zur Nebensache und ist doch ein Ereignis, denn mit ihren »Inkommensurablen« gibt Raphaela Edelbauer eine gültige Antwort darauf, was Literatur heute im besten Fall zum Verständnis der Welt beitragen kann.
Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–, Streaming € 6,–
Lesung mit Jojo Moyes
»Mein Leben in deinem«
Jojo Moyes liest aus ihrem neuen Roman. Deutscher Text: Julia Nachtmann. Moderation: Anouk Schollähn.Buchhandlung Heymann in der Laeiszhalle, Johannes-Brahms-Platz, 20.00 Uhr, € 19,–/ € 14,–
Poetry Slam
»Jägerschlacht«
Offener Poetry Slam. Lesezeit: 5 Minuten. Lesen kann, wer sich kurz vor der Veranstaltung in die Leseliste eintragen lässt. Moderation: Hannes Maaß.Kampf der Künste, Grüner Jäger, Neuer Pferdemarkt 36, 20.00 Uhr, € 6,–
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