Dienstag, 06.02.2024
Lesung mit Iris Wolff
Countdown einer Liebe
Iris Wolff, Foto: Maximilian Goedecke
Auf die berühmte Frage Jean Amérys »Wieviel Heimat braucht der Mensch?« gibt Iris Wolff, die 1977 in Sibiu (Hermannstadt) in Siebenbürgen geboren wurde und 1985 nach Deutschland kam, vor einigen Jahren in einem Interview die Antwort: »So viel wie es geht und an so verschiedenen Orten wie möglich. Gerne auch in einem anderen Menschen, einem Buch, einem Baum.« Das muss kein Widerspruch zu der landläufigen Vorstellung sein, dass wir mit Heimat den Ort verbinden, an dem wir geboren und aufgewachsen sind, es zeigt nur sehr deutlich, dass die Konstrukte von Heimat und Herkunft vielschichtig sind. Zugehörigkeit sei »vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung«, erklärt Ferry seinem Enkelsohn Lev in »Lichtungen« und entscheidet sich als Sohn eines Österreichers und einer Siebenbürger Sächsin für die Flucht aus der Ceausescu-Diktatur über die grüne Grenze nach Wien. Sein Enkelsohn dagegen verweigert sich der »Zuteilung in Deutsch oder Rumänisch«. Er bleibt in dem kleinen Dorf zurück, in dem er aufgewachsen ist, auch nachdem die Grenzen offen sind.
Erst als Lev eines Tages eine Postkarte aus Zürich erhält, darauf der Satz »Wann kommst du?«, macht er sich auf den Weg. Wir begegnen ihm zu Beginn des Romans im neunten Kapitel auf einer Fähre mit Kato, der großen Liebe seines Lebens. Wie bei einem Countdown rechnet der Roman daraufhin die Kapitelfolgen bis zu dem auslösenden Ereignis der Freundschaft zwischen Lev und Kato herunter. Seit ihren Kindertagen sind sich die beiden durch eine innige Liebe und Zugewandtheit verbunden, die ihnen Halt und Sicherheit im kommunistischen Rumänien gibt. Die Öffnung der Grenzen in Europa verändert ihre Beziehung dann für immer, die Lebensentwürfe weiten sich – und Kato zieht es, wie so viele andere, hinaus in die Welt, während Lev weiter die Pfade ihrer Kindheit abläuft: »Vom Fortgehen weiß er nichts. Nur von Abwesenheiten.«
Iris Wolff erzählt in ihrem hochpoetischen Roman eine zeitlose Liebesgeschichte als Reise in die Vergangenheit und kommt dabei fast en passant mitten in der Gegenwart an. Es sind die Abwesenden, die heute viele Regionen im Osten Europas prägen, nachdem ganze Generationen junger Leute in den Westen gegangen sind. Iris Wolff schenkt ihnen mit »Lichtungen« ein literarisches Porträt von großer Schönheit und Eleganz.
Iris Wolff stellt ihren Roman »Lichtungen« im Literaturhaus vor. Moderation und Gespräch: Christoph Bungartz.
Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 14,–/10,–, Streaming € 6,–
Aktuelle Buchempfehlungen
Iris Wolffs neuer Roman »Lichtungen«
Countdown einer Liebe
Iris Wolff, Foto: Maximilian Goedecke
Uwe Timms Lebensbuch »Alle meine Geister«
Die Kunst des Auslassens
Uwe Timm, Foto: Lena Ternovaja
Anja Marschals historischer Roman »Als der Sturm kam«
»Als der Sturm kam«
Anja Marschall, Foto: Frauke Ibs
Martin Doerrys deutsch-jüdische Familiengeschichte
»Lillis Tochter«
Martin Doerry, Foto: privat
Alice Hasters neues Buch »Identitätskrise«
Plädoyer für eine neues Wir
Alice Hasters, Foto: Paula Winkler
Erika Freeman und Dirk Stermann
»Zweifeln immer, verzweifeln nimmer«
Dirk Stermann und Erika Freeman, Foto: Ingo Pertramer
Florian Illies Buch über Caspar David Friedrich
Sehnuschtsmond im Nebelland
Caspar David Friedrich: Winterlandschaft, 1811, Foto: Staatliches Museum Schwerin
Jasmin Schreibers Roman »Endling«
Die letzte ihrer Art
Jasmin Schreiber, Foto: privat
Jarka Kubsovas Roman »Marschlande«
Eine Alte Geschichte in neuem Licht
Jarka Kubsova, Foto: Christoph Niemann
Mirko Bonnés neuer Roman
Wenn die Tage plötzlich wieder zählen
Mirko Bonné, Foto: Beowulf Sheehan
Jeannette Walls Roman »Vom Himmel die Sterne«
Die Rum-running Queen von Claiborne County
Jeannette Walls, Foto: John Taylor
Louise Kennedys Roman »Übertretung«
Gegen jede Vernunft
Louise Kennedy, Foto: privat
Helge Timmerbergs »Joint Adventure«
Auf Drogentrip mit Helge
Helge Timmerberg, Foto: Frank Taurit
Rachel Yoders Roman »Nightbitch«
Ein ganz anderer Mensch
Rachel Yoder, Foto: Nathan Biehl
Terézia Moras neuer Roman
»Muna oder Die Hälfte des Lebens«
Terézia Mora , Foto: Antje Berghäuser
Tanja Schwarz´ neuer Roman »Vaters Stimme«
Ein Basso continuo für das schwankende Selbst
Tanja Schwarz, Foto: Rebecca Hoppé
Johanna Sebauers Romandebüt »Nincshof«
Der Königsweg in die Freiheit
Johanna Sebauer, Foto: Birte Filmer
Robert Seethalers Roman »Das Café ohne Namen«
Ein Platzerl im Leben
Robert Seethaler, Foto: Urban Zintelr
Marica Bodrožics »Die Arbeit der Vögel«
Das größere Gedächtnis
Marica Bodrožic, Foto: Peter von Felbert
Ella Carina Werners Erzählband »Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen«
So super, diese Frau Werner
Ella Carina Werner, Foto: Julia Schwendner
T.C. Boyles »Blue Skies«
Der Countdown läuft
T.C. Boyle, Foto: Jamieson Fry
Helga Schuberts »Der heutige Tag«
Die weiten blauen Fernen
Helga Schubert, Foto: Renate von Mangold
Clemens Setz neuer Roman »Monde vor der Landung«
Den »Windmühlen-Vorteil« nutzen
Clemens Setz, Foto: Max Zerrahn
Der neue Roman von A.L. Kennedy
»Als lebten wir in einem barmherzigen Land«
A.L. Kennedy, Foto: Robin Niedojadlo
Kim de l’Horizons »Blutbuch«
Ein Zuhause in der Sprache finden
Kim de l´Horizon, Foto: Anne Morgenstern
Die 18. Ausgabe des Hamburger Literaturjahrbuchs ZIEGEL
Ein Hingucker in Pink
So leuchtend hat sich das Hamburger Literaturjahrbuch ZIEGEL bisher noch nie gezeigt. Die 18. Ausgabe der beliebten Anthologie ist jedoch nicht nur ein Hingucker in Pink, sondern präsentiert auch ein vielschichtiges Best-of mit Erzählungen, Gedichten, Auszügen aus Romanen, Theaterstücken und Comics aus der Hamburger Literatur der letzten zwei Jahre. »Es ist zwar ein schweres Buch«, schwärmte das NDR Hamburg Journal, »aber es liest sich federleicht«.
Matthias Polityckis neuer Roman »Alles wird gut«
Eine Liebe in Afrika
Matthias Politycki, Foto: Heribert Corn
Katrin Seddigs neuer Roman »Nadine«
Den Ausweg finden
Katrin Seddig, Foto: Bruno Seddig
Michael Köhlmeiers neuer Roman »Frankie«
So ein ganz schlauer
Michael Köhlmeier, Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Virginie Despentes Roman »Liebes Arschloch«
»Du bist wie eine Taube«
Virginie Despentes, Foto: JF PAGAn
Magdalena Saigers Debüt »Was ihr nicht seht«
Und dann steht da ein Hirsch
Magdalena Saiger, Foto: Andreas Hornoff
Raphaela Edelbauers neuer Roman
»Man nennt sie: Inkommensurable«
Raphaela Edelbauer, Foto: Apollonia Bitzan
Peter Stamms neuer Roman »In einer dunkelblauen Stunde«
Eine vertrackte Geschichte
Peter Stamm, Foto: Salon du livre, Genève, 2012, Ludovic Péron
Behzad Karim Kani, Martin Kordic und Musa Okwonga
Ein Kraftzentrum der Gegenwartsliteratur
Behzad Karim Khani, Foto: Valerie Benner
Leona Stahlmanns Roman »Diese ganzen belanglosen Wunder«
In einer nicht so fernen Zeit
Leona Stahlmann, Foto: Amrei Marie